Rezension
27 deutsche und polnische
AutorInnen – aufgewachsen in Polen, der DDR, in Westdeutschland – erzählen aus
ihrer Kindheit.
Hg. von Heinrich von der
Haar im Verlag Heidi Ramlow, 2015. 316 S., 12 €, ISBN 978-3-939385-08-0.
Das Literaturkollegium
Brandenburg besteht seit 25 Jahren und hat aus diesem Anlass eine Anthologie
angeregt und herausgegeben, die sich mit der Kindheit in Polen/Deutschland
beschäftigt. Nun ist so eine Anthologie und noch dazu mit diesem Thema immer
ein gefährliches Unterfangen. Wir kennen zur Genüge, die Verklärung der Kindheit,
wie schön damals alles war, wir haben zur Genüge schon gelesen, von den
Menschen, welche die unglaublichen Umstürze, Änderungen, Verwerfungen unserer
Zeit erlebt hatten. Unvergesslich bleiben dem aufmerksamen Leser, die bald nach
der Wende einsetzenden „Klagelieder“ von Autoren aus der ehemaligen DDR. Sie
standen oft unter dem Motto. „Wir waren zwar arm, aber glücklich“ Mit
entsprechenden Vorbehalten geht der Leser daher eine an Anthologie heran,
welche Texte von 27 Autorinnen und Autoren aus Polen, Deutschland enthält,
natürlich auch solchen aus der ehemaligen DDR. Umso größer ist die
Überraschung, wenn man ein wenig hineinblättert in diese Broschüre. Der älteste
Teilnehmer Jahrgang 1930, der Jüngste Jahrgang 1991. Sie stammen aus der
Provinz, aus der Stadt, sie leben in Berlin, in Warschau, in kleinen Städten am
Lande, in fast vergessenen Dörfern. Natürlich, das Landleben, das einfache
Leben, die ärmliche Kindheit, alles wird „bedient“ und doch, es ist eine
interessante Gegenüberstellung der Träume des Kindes (an die sich der
„abgeklärte, desillusionierte“, Erwachsene erinnert) mit der Realität des 21.
Jahrhunderts. Pointiert formulierte Romanauszüge, Short stories, Gedichte,
Tagebuchskizzen, eine unglaubliche Vielfalt an Formen der literarischen
Gestaltung, ein demographisch und politologisch aber auch soziologisch
ausgeprägter Kosmos tut sich vor dem Leser auf. Es ist natürlich schwer, aus Beiträge von 27
unterschiedlichen Menschen herauszufiltern, hervorzuheben, was besonders
beeindruckend oder literarisch ein außergewöhnliches Highlight wäre. Es wäre
auch ungerecht. Die Übersetzungen, vielfach von den Autoren selbst verfasst
oder zumindest betreut, aus dem Polnischen versuchen die Poesie der Sprache
beizubehalten ohne dabei auf gekünstelte und modernistische Formulierungen so
genannter deutscher Gegenwartslyrik zu verfallen. Dem Rezensenten würde es
unfair erscheinen, diese Story, oder jenes Gedicht besonders zu erwähnen, die
Kindheitsschilderung am flachen Land mit jeder in den Plattenbauten in den
Bettenburgen des Real Existierenden Sozialismus zu vergleichen. Nehmen wir den
Titel einer Erzählung (eines Romanauszuges) her: „Den Wurzeln entkommt man nicht“
so ist alles über diese Anthologie ausgesagt. Sie ist als Ganzes betrachtet,
ein gelungener Versuch, dieses sperrige – weil anscheinend abgebrauchte – Thema
grenz- und generationsübergreifend zu behandeln. Dem Rezensenten drängt sich
die Idee auf, dies in weiterem Rahmen zu wiederholen oder zu erweitern: Eine
Kindheit, auch in Österreich, auch Generationen erfassend, die Vielfalt der
Bundesländer, und ganz besonders die Schicksalshaftigkeit des Seßhaftwerdens
der hunderttausenden Heimatvertriebenen, die nach der Katastrophe des
Weltkrieges gezwungen waren, eine neue Heimat zu finden. Deren Kinder noch in
Barackenlagern aufwuchsen, und nun, zwei Generationen später, die Erzählungen
der Großeltern mit der Realität des heutigen Österreichs vergleichen, das sich
einerseits mit umwerfenden Herzlichkeit den Flüchtlingsströmen aus dem Nahen
Osten widmet, anderseits ein auch nicht geringer Teil des selben Österreichs
sich vehement dagegen wehrt und behauptet „Das Boot ist voll“. So eine
Anthologie, verbunden mit einer Veranstaltungsreihe (in immerhin 20 deutschen
und polnischen Städten gibt es Lesungen und Präsentationen der Anthologie) ist
ein wichtiges Element des so notwendigen Aufeinander-Zugehens und wäre ein
Vorbild für Literaturvereinigungen! Vielleicht finden sich – nein, nicht
Nachahmer – Fortsetzer, Weitermacher. Es wäre aber auch schön und wichtig, die
Autoren der deutsch-polnischen Anthologie nach Österreich einzuladen. Es gibt
genug Kulturinstitutionen, die sich dem annehmen könnten, genug Städte und Orte
in ganz Österreich, welche oftmals Geld für „Kulturveranstaltungen“ ausgeben, wo man die „Kultur“ suchen muss.
Hier wäre eine Anregung für Verantwortliche: Da habt ihr nicht nur ein
aktuelles Thema, sondern auch eine hochkarätige und literarisch wertvolle Basis
für eure Kulturarbeit vor Ort. Dem Literaturkollegium Brandenburg sei Dank
gesagt für diese Initiative und die überaus sorgfältige Zusammenstellung und
Auswahl.
Hans Bäck, Kapfenberg,
Mitglied des Europa Literaturkreises Kapfenberg, des PEN-Trieste usw.
Mitglied des Europa Literaturkreises Kapfenberg, des PEN-Trieste usw.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen