TAVIA
von Reinhard Mermi
Das große Spiel
Ich bin der andere, der dir auf deinen Wegen entgegen kommt –
aber auch der Dritte. Doch wenn ich jeweils der andere – der Dritte – bin, dann
bin ich auch du und du auch ich – und du auch der andere und der Dritte. Dann
bin ich selbst auch ich und du selbst bist du. Und so wenig ich und du die
Worte und Gedanken, die Gefühle der anderen, des Dritten, verstehen, so wenig
verstehe ich mich oder du dich selbst, und jeder lebt für sich in seiner ihm
unbegreifbaren erscheinenden Welt – denkt nach über den Sinn und Zweck seines
Daseins. Bewundert und liebt sich, weint und lacht über sich selbst, schreit in
seiner Verzweiflung die eigene Verlorenheit in die Nacht hinaus. In solchen
Momenten konstatiert jeder für sich selbst die Lautlosigkeit der Gefühle in
dieser Welt, denn keiner will verstehen, dass er die einzelne Karte in einem
Kartenspiel ist; hört keiner die Schreie der anderen. Und obgleich die einzelne
Spielkarte nur auf vergänglichem Papier gedruckt wurde, hat sie doch eine ihr
zugedachte Gewichtung und Rolle im Spiel. In dem man seinen Gegner täuscht,
dessen Gedanken erraten will, Mitgefühl über das Pech des anderen heuchelt,
offen seine Schadenfreude zeigt; Allianzen mit den anderen Mitspielern bildet,
wenn es zum eigenen Vorteil zu sein scheint. Doch jede Karte im Kartenspiel ist
schlussendlich ersetzbar, genauso wie das Kartenspiel selbst. Und trotzdem geht
das große Spiel weiter, das Leben heißt, mit gleichen, anderen Karten. Drum
setze dich an den Tisch, und spiele Karten mit mir, diese Nacht, damit wir
einander vielleicht verstehen. Zumindest für die Dauer eines kurzen Spiels –
vielleicht auch bis zum Morgengrauen, wenn wir die Spieltische, die
Kartenspiele wieder wechseln.
Doch mische die Karten gut, mein lieber Freund, und ich werde
dir zum Zeitvertreib eine kurze Geschichte erzählen ...
Tavia
Ich war angekommen
und bereits nach meinen ersten Schritten auf dem Bahnsteig musste sich die
Stadt meiner bemächtigt haben. Sie hätte mich abholen können. Ich empfand mich
als Insekt, das in die Pflanzenfalle geraten war, in einen Sog, dessen Ursprung
ich jetzt erst zu erkennen glaube in dem alten Mann; er steht im Gegenstrom der
Passanten, öffnet und schließt den Mund gleich einem Fisch. Er kaut die Luft,
die Buntheit der Kioske, die Plakate und Werbesäulen mit ihren Ansagen und
Aussagen, den Flugrost der Ferne. Seine Hängebacken blähen sich, er hamstert
das Leben darin, indem er es aufsaugt, um anschließend den nicht verwertbaren
Rest wieder auszublasen. Müll zu Müll. Seinen Einkaufswagen vor sich
herschiebend, seine Armut darin als Ballast, so bahnt er sich, gebückt und mit
einem abgetragenen Trenchcoat bekleidet, seinen Weg durch die Passanten. Pflügt
er die blumige Brache, über dem sich ein Gewölbe aus Mondmilchscheiben spannt.
Schweinwerfer und Lichtspots – Sonnen und Sterne zugleich, das Geräusch des
Windes – ein Grundrauschen – verursacht
durch die eilenden Schritte der Passanten, dem murmelnden Bettler, fallenden
Gepäckstücken, anhaltenden und abfahrenden Zügen , dem Schlag auf Metall,
verhaltenes Rufen, die Frauenstimme aus dem Lautsprecher von Zeit zu Zeit.
Blitzlichtgewitter. Kein Regen. Ein herumstehender Mann mit gegeeltem Haar
wirft eine zerdrückte RedBull-Dose in den Einkaufswagen des gebückt gehenden
Trenchcoat-Trägers und grient. Verärgert
bläht der Alte ob der Unverfrorenheit seine Hängebacken ballonförmig auf und
hechelt Luft in kurzen Stößen. Unbeabsichtigt gerät er mit einer Nobeldame
aneinander, mit Paketen in Goldpapier bepackt. „Haste zwei Euro für mich?“,
frägt mich jemand. Sie bahnt sich den Weg durch die entgegenkommenden Menschen
in Richtung Ausgang „City“. ...
Sie trägt Pumps, und
der Asphalt antwortet mit einem aufreizenden Klappern, wenn ihre Schuhe den
Boden berühren. Ich folge unwillkürlich der, so wie ich annehme, jungen
Trägerin, die in einem Juweliergeschäft am Ende der Bahnhofshalle verschwindet.
Ein schwarzer Lieferwagen hält am Bahnhofseingang. Zwei Männer mit dunklen
Brillen steigen aus; `Security-Transport´ steht auf ihren Overalls.
Der Fluss
verschwindet hinter einer sanften Biegung; eine Mischung aus Budapester
Donau-Prospekt und Canale-Grande, der Provinzialität eines Flügelbahnhofs. Du
bist nicht gekommen. Auf der Kaimauer zeigen weibliche Models die künftige
Sommer-Mode. Sollte ich länger an diesem Ort verweilen, oder dem Verlauf des
Flusses folgen? Wohin würde er mich führen? Was, wenn ich weiterginge, den noch
verbleibenden Rest dieses Tages? Die ganze Nacht – vielleicht noch den
kommenden Tag? Würde ich dich am Ende finden? – TAVIA! Ich liebte von Anfang an
den Klang deines Namens! “Wir dürfen uns in dieser fremden Stadt nach so vielen
Jahren nicht aus den Augen verlieren!“, sagte ich zu dir, ich weiß nicht mehr
wann und bei welcher Gelegenheit das war.
Ich bin besorgt und
konstatiere im Nachhinein die Lautlosigkeit der Gefühle, draußen wie drinnen,
stoße mit beiden Händen die Tür zum Gastraum weit auf und stelle fest, dass ich
in diesem Etablissement zu Hause bin, für die kommende Nacht zumindest. Aus
zwei schäbigen Ledersesseln erheben sich fremde Männer, sagen, sie seien ferne
Verwandte, geben vor, mich seit Stunden schon zu erwarten, erkundigen sich nach
meinem Wohlbefinden. Sie nehmen mich in die Mitte, reden mit hastigem Staccato
auf mich ein, informieren mich, dass du vor einer knappen Stunde, ohne dein
Ziel zu nennen, von hier weggegangen wärst. Unter ihren offenen Blousons tragen
sie vergilbte Nylonhemden; aus der Musicbox im Hintergrund ertönt
Boogie-Woogie.
Der Wirt hinter der
Theke: er trägt ein schmutzig-weißes Feinripp-Unterhemd, seine Arme sind
tätowiert. Er öffnet eine Flasche Pils, schiebt sie zu mir rüber; seine Finger
sind nikotingelb. Das Fasspils „ist alle“ hatte er mir zuvor verkündet. Dann lehnt er sich wieder an den Tresen, den
Aschenbecher vor sich, und nimmt einen Zug aus seiner offensichtlich niemals
ausgehenden Zigarette.
Ich nippe an dem
warmen Bier, sehe dich in meiner Vorstellung vor mir: du drehst dich nach mir
um, ich schaue in ein mir fremdes, zorniges Gesicht; dann verschluckt dich eine
Menschenmenge. Der Geruch nach billigem Aftershave, der Zigarettenqualm, die
beklemmende Eindringlichkeit der Blümchenmuster-Tapete rauben mir den
Atem. Ich gehe nach draußen, bin besorgt
und konstatiere im nachhinein die Lautlosigkeit der Gefühle draußen wie
drinnen.
Schöne Frauen in
Sommergewänder gekleidet, stehen auf der Kaimauer, sehen mich an, um sich dann
abzuwenden. Steigen in den Fluss der hinter einer sanften Biegung verschwindet.
Eine Mischung aus Budapester Donau-Prospekt und Canale-Grande, der
Provinzialität eines Flügelbahnhofs. Die schönen Frauen verharren regungslos in
knöcheltiefem Wasser. Ihre Blicke gehen in unterschiedliche Richtungen, andere
waten unbeachtet in Richtung Flussmitte, bis sie in diffusen Lichtfluten
versinken.
Warum war ich an
diesen Ort zurückgekehrt? Sollte ich länger an diesem Ort verweilen, oder dem
Verlauf des Flusses folgen? Wohin würde er mich führen? Was, wenn ich
weiterginge, den noch verbleibenden Rest dieses Tages? Die ganze Nacht –
vielleicht noch den kommenden Tag? Würde ich dich am Ende finden? Ist doch
jeder Schritt – vor oder zurück – eine schwere Entscheidung für mich, bereitet
mir Schmerzen. Oder sollte ich einfach stehen bleiben. Für wie lange? Wie lange
dauert eine Ewigkeit? Würde es mir in
meiner derzeitigen Situation, über die ich mir nicht im klaren war, meiner
derzeitigen Verfassung, nützen? Wäre jeder meiner Schritte über diese
unsichtbaren Barrieren hinweg, für mich zielführend, ausschlaggebend für mich,
da ich den Anfang – meinen Anfang – nicht einmal kannte? – TAVIA! Ich liebte
von Anfang an den Klang deines Namens! – Wir dürfen uns in dieser fremden Stadt
nach so vielen Jahren nicht aus den Augen verlieren! Sagte ich zu dir, ich weiß
nicht mehr wann und bei welcher Gelegenheit das war.
Eine Gruppe von
Männern und Frauen wendet sich mir zu. Ich schaue in leere Gesichter, während
ich mich für die Lederjacke bedanke. Sie klatschen, während ein Mann mir die
Jacke aus der Hand nimmt, sich überzieht. Wasserpfützen bedecken den
Platz, in den Ritzen des Plattenbelags
wächst Löwenzahn. Ein schwarzes Loch speit eine Kugel, die Kegel aus. Die
Kugel: sie weicht von den sich aufgerichteten Kegeln, folgt der Wasserspur,
spult sie auf, überrollt die Blüten des Löwenzahns, bevor diese sich wieder
unversehrt aufrichten. Dann gleitet die Kugel zurück in meine ausgestreckte
rechte Hand; ich ziele nach den Kegeln.
Ich bin besorgt und
konstatiere im nachhinein die Lautlosigkeit der Gefühle draußen wie drinnen,
stoße mit beiden Händen die Tür zum Gastraum weit auf. Ich stelle fest, dass
ich in diesem Etablissement zu Hause bin, für die kommende Nacht zumindest. Ein
Mann betritt hinter mir den Raum. Aus zwei schäbigen Ledersesseln erheben sich
fremde Männer, sagen sie seien ferne Verwandte von ihm, geben vor, ihn seit
Stunden schon zu erwarten. Mich lassen sie unbehelligt.
Die Männer nehmen
ihn in die Mitte und reden mit hastigem Staccato auf ihn ein, informieren ihn,
dass seine Freundin oder Frau vor einer knappen Stunde, ohne ihr Ziel zu
nennen, von hier weggegangen wäre. Unter ihren offenen Blousons tragen sie
vergilbte Nylonhemden, aus der Musicbox im Hintergrund ertönt Boogie-Woogie.
Der Wirt hinter der
Theke: er trägt ein schmutzig-weißes Feinripp-Unterhemd, seine Arme sind
tätowiert. Er öffnet eine Flasche Pils, schiebt sie dem fremden Mann rüber;
seine Finger sind nikotingelb. Das Fasspils „ist alle“ hatte er ihm zuvor
verkündet. Dann lehnt er sich wieder an
den Tresen, den Aschenbecher vor sich, und nimmt einen Zug aus seiner
offensichtlich niemals ausgehenden Zigarette.
Der Zigarettenqualm,
dazu der Geruch nach billigem Aftershave, die beklemmende Eindringlichkeit der
Blümchenmuster-Tapete, rauben mir den Atem. Unbehelligt verlasse ich das Lokal
über die Hintertür, stehe in einem kahlen Treppenhaus aus Schalbeton: In den
Ecken die Reste von Erbrochenem; es stinkt nach Pisse. Ich gehe die nackten Stufen
hinauf, bin besorgt, und konstatiere im nachhinein die Lautlosigkeit der
Gefühle hier draußen wie drinnen.
Die Treppenraumwände
sind mannshoch mit wasserabweisender Öllackfarbe gestrichen, die vergitterten
Fenster lassen den Blick auf den Hinterhof zu. Die Fassaden hat wilder Wein
überwuchert. Ein alter Mann sitzt auf einem umgekehrten Blecheimer, hantiert
mit Schraubenschlüssel und Pinsel an den Felgen seines VW-Käfers. Er kippt
Reinigungsflüssigkeit aus einer Blechdose in den Hofablauf. Ich bin in der
obersten Etage angelangt; ein kleines Mädchen mit Zöpfen hüpft sichtlich
sorglos die Stufen hinab, ganz nah am saugenden Abgrund des Treppenauges
entlang, es öffnet den Mund zu einem stummen Lachen. Der Name der Stadt, des
Orts, Grund und Anlass meines Aufenthalts erschließen sich mir nicht. Ich bin
darüber besorgt und konstatiere im Nachhinein die Lautlosigkeit der Gefühle
draußen wie drinnen. Jemand ruft nach dem Kind: TAVIA.
Reinhard Mermi
(Blog-Redaktion)