Sonntag, 9. Dezember 2012

marthe. countdown



von Dagmar Weck                                                                      


In frühem, Geborgenheit bietendem Dunkel dieses Adventabends schließt Phil die Tür seines Hauses auf, zwei leuchtende Nikolausgesichter, gefangen in einer übergroßen Plastikkugel, lächeln ihm im Flur des Hauses zu.
„Du kommst spät, Phil, wieder einmal“, Marthe ruft aus dem Wohnzimmer , zwei Nuancen zu laut, „wir müssen mir den Vorbereitungen für Heiligabend fertig werden, es wird höchste Zeit.

„Bis dahin haben wir noch zwei Wochen Zeit, meine Gute“, Phil berührt die mageren Ärmchen von schneeweißen Kunsttannenbäumchen, die hinter einander auf dem Fußboden stehen und ihm auf dem Weg zu Marthe Geleit geben. Armselig täuschen die Bäumchen Schnee vor, den sie niemals spüren werden.
„Stell bitte das Rentier auf die Terrasse, Schatz“, Marthes Stimmlage erwärmt das Wohnzimmer nicht, in das Phil eintritt.
„Lass mich erst mal was essen“, Phil küsst Marthe, doch auch der Kuss kann keine Herzenswärme in dieses Haus hineintragen.
„Dein Essen musst du in der Mikrowelle wieder warm machen“, Marthe hängt noch eine sehr große goldenen Christbaumkugel an die grüne Kunststofftanne im Wohnzimmer, „die letzte Kugel befestige ich, ist unsere Tanne nicht wunderschön?“

„Sie ist überladen, du hast sie so zugehängt, dass die einzelnen Kugeln ihren Glanz nicht mehr zur Wirkung bringen können, Marthe, heute hatte ich ziemlichen Stress in der Kanzlei, einen komplizierten Fall habe ich angenommen, es geht um Unterschlagung, der junge Klient, der sich mir anvertraut hat, wird immer wieder rückfällig.“
 „Lass deine Sorgen bitte draußen, mein Schatz, wir werden ein besonders festliches Weihnachten haben, das Fest der Liebe, Phil.“
Phil setzt die Mikrowelle in Betrieb, Marthe ist ihm in die Küche gefolgt. „Das Menu für den Heiligen Abend habe ich entworfen, in diesem Jahr wird es sehr edel, so etwas hast du noch nicht gegessen, sieben Gänge plane ich, dazu gibt es sieben verschiedene Weine, sieben, mein Phillip.“
Phil schweigt.
 „Ich lade Jackie und Leroy ein, sie sind unsere engsten Freunde und sollen teilhaben an unserer Liebe, sie sollen sich bei uns sicher fühlen, Phil.“
 Tief, sehr tief unter diesen beinahe geschrieen Worten von Marthe hört Phil eine ihm fremde Marthe. Zu Weihnachten kommen auch Fremde ins Haus, die klopfen an und bitten um eine Herberge, das macht sie froh.
Marthe küsst Phil, der ihren Kuss nicht mehr erfühlt.
„Die goldenen Kugeln an unserer Tanne im Wohnzimmer habe ich neu gekauft, sie sind unzerbrechlich, an unserem Heiligabend kann nichts passieren, von neuen Tellern werden wir auch essen, Teller mit goldroten Engelchen habe ich gekauft.

„Jackie und Leroy kommen auch in diesem Jahr nicht zu uns, Marthe“, Phil isst seinen heißen Lachs, der ihm schmeckt, „ist gut, der Lachs!“ Marthe schaut ihn froh an. „Unser siebengängiges Menu wird Stunden dauern, mein Lieber, wir machen es uns gemütlich, da bin ich sicher.“
„Nach den Weihnachtstagen zerbrechen viele Beziehungen, Marthe.“ Sie sieht an Phil vorbei.
„Dort sind sie, die Engelteller“, sie zeigt auf ein Paket mit mindestens zwölf Tellern.
„Wir sind am 24. Dezember allein“, in Phil ereignet sich der Zorn der Vorweihnachtszeit.
„Nein“, diesmal nicht, Leroy und Jackie haben zugesagt, sie kommen, Phil, sieh doch
die Wirklichkeit.“
„Wo ist sie, unsere Wahrheit, Marthe?“
„Wir werden ein  harmonisches Fest haben, wir haben doch so viel erreicht, Liebster,
wir haben Sicherheit, , wir gehören zusammen!“ „Marthe, was ist geschehen?“
Marthe verlässt die Küche und Phil, der allein zurückbleibt.
Er hört nach einer Weile ein schleifendes Geräusch auf der Terrasse, dem er sich nähert.
Marthe zieht ein eisblau erleuchtetes beinahe frauengroßes Rentier, an dem ein dunkelrot erstrahlender gewaltig großer Schlitten hängt , auf die Terrasse.
„Was soll das?“ Phil zeigt auf die kleinen Rentiere , die bereits in ihrem goldenen Licht auf der Terrasse ihren festen Platz eingenommen haben.

Marthe antwortet nicht.
„Ich gehe mal zum Kiosk, bin gleich wieder da.“ Phil lässt Marthe allein, einen Abschiedskuss gibt es nicht.
Marthe hört die Haustür zufallen und hält sich an ihrem heißgeliebten RiesenRentier fest.
Sie sieht Phil die wenigen Schritte über die Straße bis zum Kiosk gehen. Genau davor bleibt er stehen, ein Wagen hält, in den Phil einsteigt.
Er muss sicher noch Weihnachtsgeschenke abholen,“ spricht Marthe in die späte, mit strahlenden Sternen geschmückte Stunde hinein und schaut das Auto an.
Am Steuer des Wagens sitzt ein Mann, der aussieht wie Leroy. Ihn hat Marthe seit Monaten nicht gesehen, vom Reden ganz zu schweigen. Auch Jackie lässt nichts mehr von sich hören.
Marthe geht noch einmal die Planung ihres Menus durch. Exakt für vier Personen.


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