Sonntag, 23. Dezember 2012

"Nachtrag zu Sistiana" (2)

Zugegeben, es hat zunächst den Anschein, dass das Thema "ein alter Schnee von gestern" wäre. Der erste und bisher letzte Beitrag hierzu datiert vom 28.02.2010 auf unserem Blog. Aber die sinkende Qualität der eingereichten Lyrikbeiträge für das Reibeisen 2013 (die Juroren können davon ein Lied singen) lassen die Lyriker unter uns schmerzlich erkennen: Es ist keine gute Zeit für Lyrik. Deshalb möchte ich an dieser Stelle nochmals auf unsere „SchreibwerkstattLyrik 2009“ in Sistiana zurück kommen und im Nachtrag - wie bereits 2010 angekündigt - "peu à peu" einige seinerzeit angesprochene Themen ansprechen und vertiefen. Es geht nochmals über:

Gedichtüberschriften
Ging es im ersten Beitrag (2010) darum, dass Gedichtüberschriften mittels Wechselbezügen ein Spannungsverhältnis zum Gedicht aufbauen können, so geht es diesmal um Gedichtüberschriften,
die entweder auf das Objekt oder auf das Erleben hinweisen. So kann das im Titel genannte Thema anhand vieler Beispiele entfaltet und variiert werden, so z.B. in Goethes nachfolgendem Gedicht: 


Nähe des Geliebten

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
                        Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
                        In Quellen malt.
Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
                        Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
                        Der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
                        Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh ich oft zu lauschen
                        Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne,
                        Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
                        O wärst du da!

Die Gedichtüberschrift kann aber auch die Situation oder den Anlass für die Entstehung des Gedichts aufzeigen, so wie in Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“, das über die Beschreibung einer mondhellen Frühsommernacht hinaus die Sehnsucht nach Heimat und Frieden thematisiert:

Mondnacht

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flug durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.


Interessant, weil es auf eine andere Wirkung zwischen Überschrift und Text abzielt, ist das nachfolgende Gedicht von Erich Kästner:

Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
 
In diesem Gedicht fällt sofort das Oxymoron in der Überschrift deutlich ins Auge. In Verbindung mit der sarkastischen Bemerkung aus Vers 2: „und man darf sagen: sie kannten sich gut“, bekommt das Gedicht in Verbindung mit dem Widerspruch aus der Überschrift einen unwirklich wirkenden Charakter bzw. wirkt verharmlosend. Kästner gelingt es, den Inhalt seines Gedichts ironisch – sarkastisch wirken zu lassen. Sein Gedicht ist ein Beispiel dafür, dass gerade auch mit dem Widersprüchlichen eine Spannung zwischen Überschrift und Text mit „großer Wirkung“ erzielt werden kann.

Abschließend darf ich auf das Seminarangebot des ELKK für das kommende Jahr hinweisen. 

Das war's bis zum nächsten Mal!

Reinhard Mermi
Redaktion

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