Sonntag, 16. Februar 2014

Sonntagstext - 16. Februar 2014



Erzählungen aus der Kolonie

Von Reinhard Lackinger

Jandir Crestanis Geburtstagsfeier erinnert an die Aufführung einer Operette. Ein Bühnenstück in einem Akt, in einem "Churrasco" mit viel selbst gekeltertem Wein, Akkordeonmusik und Gesang. 

Ort der Handlung: der Weinkeller der „Pousada Ca´di Valle“ im „Vale dos Vinhedos“ bei „Bento Gonçalves“, „Rio Grande do Sul“.

Männer stehen herum, nippen an Schnapsgläsern. Neuangekommene schlagen Autotüren zu, ziehen die Aufmerksamkeit des Hausherren an sich. Frauen tragen Speisen herbei. Salate, "Arroz de carreteiro" und frittierte Polenta. Am Tor der Adega steht Jandirs Sohn Tiago an der Glut der "Churrasqueira" und hantiert mit Messer und Gabel. Das sieht so aus, als würde er, die zum Grillen aufgelegten Fleischstücke dirigieren. 

Nach dem Schnaps geht jeder zu seinem Stuhl an den der Reihe nach aufgestellten Tischen. Es wird gemeinsam gebetet. Ein Augenblick, der an das Refektorium eines Zisterzienserklosters erinnert. Dann geht es aber gleich wieder zu wie auf Brueghels Gemälden. Vilma, Jandirs Ehefrau rückt Teller und Platten zurecht, die Gäste zum Zugreifen animierend. Das beinahe siebzig Jahre alte Geburtstagskind greift nach Weinflaschen, gießt Gläser voll. Die Isabella-Trauben kommen vom Weingarten hinter seinen Häusern.

Bei solchen Ereignissen wäre kein anderes Getränk denkbar. Auch wenn diese Art von Wein in Österreich gerne konsumiert wird, ziehe ich normalerweise andere Trauben vor. Merlot, Pinot Noir, Cabernet Franc und Tannat. Da ich aber weiß, wie Jandir den Wein macht, wundert es mich nicht, dass ich am nächsten Morgen keine Kopfschmerzen habe. Ich erlebte den Prozess schon mehrmals und habe gesehen, wie er und sein Schwager Teodoro nur die reifsten und besten Früchte von den frisch geernteten Trauben zupfen. Es wird zugeprostet und jeder greift zu. Remy Valduga, der Heimatdichter, ergreift das Wort. 

Ich kenne etliche Geschichten jenes Volkshistorikers. Sowohl aus den obligaten und alljährlichen Erzählungen, als auch aus seinen Büchern. Aus "Sonho de Imigrante", also "Traum eines Einwanderers" und "Caçadores de Caramujos", die "Schneckenjäger". Beide Titel behandeln die Geschichte italienischer Immigranten. Eine Sage von Menschen, die in den späten Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts aufbrachen, ihr von Hunger geprägtes Leben in den Bergen von Tirol, Trento und Vêneto verließen, und per Schiff in eine neue, unbekannte Welt fuhren. 

Ähnliche Erzählungen mit selbem südbrasilianischen Hintergrund begannen bereits 1824 mit der Einwanderung protestantischer Deutschen aus Pommern. Einige siedelten sich nahe der Küste von Santa Catarina an. Andere drangen auf dem Seewege über die "Lagoa dos Patos" bis „Porto Alegre“ vor, und dann weiter mit dem Boot über die Lagune „Guaíba“, das Delta des Rio Jacuí bis tief in die Flüsse Rio dos Sinos und Rio Gravataí, Rio Jacuí und Rio Caí. Eine Fahrt, stromaufwärts, die lange Jahre die Muskelkraft der Passagiere strapazierte, Ruder und Stangen in Anspruch nahmen. 

Die ersten Deutschen, die es von 1824 bis etwa 1830 in diese Gegend verschlug, gelangten auf dem Rio dos Sinos bis zum heutigen Ort São Leopoldo. Von 1835 bis 1845 und so lange der Bürger- und Unabhängigkeitskrieg namens "Guerra dos farrapos", oder "Revolução farroupilha" dauerte, kamen keine deutsche Immigranten nach Brasilien. Der nächste Schub deutscher Einwanderer kam aus Baden Württemberg. 

Ab 1870 kamen Italiener. Diese fuhren über das Jacuí Delta den „Rio Caí“ hoch und bis Porto Maratá bei Montenegro. Von dort ging es auf Eselsrücken und zu Fuß weiter bis zur heutigen Stadt Bento Gonçalves. Da erwartete sie das Roden und Pflanzen und das nackte Überleben. Die Italiener schufteten auf den ihnen zugewiesenen Grundstücken entlang der "Linha", wie die Landstreifen der Kolonien genannt werden. Parzellen, die sie im Laufe der Jahre bezahlen und abstottern mussten. Sie ernährten sich großteils von den daumengroßen Samenkernen der Araukarien. Riesige Pinienbäume, die nach wie vor die Landschaft Südbrasiliens prägen. Wenn wir heute gekochte und geröstete "Pinhões", also jene Samenkerne essen, erinnern wir uns nur selten und beiläufig an die Not der europäischen Einwanderer. Immigranten, die ins Land geholt wurden, um schwarze Zwangsarbeitskraft zu ersetzen.
Nicht nur harte Arbeit wartete auf die neuen Bewohner des Landes. Ehe sie ihr Ziel erreichten, stießen sie mitunter auf Eingeborene. Auf Índios „Caingangues“, die der ethnischen Säuberung und systematischen Ausrottung durch die vom Staat angeheuerten "Bugreiros" trotzten. Ureinwohner, die sich mit dem Verlust ihres Landes nicht abfinden und in Frieden abhauen wollten. 

Die Episode eines solchen unerwarteten Rendezvous ist Remy Valdugas Lieblingsgeschichte. Er beschreibt, wie eine Gruppe von italienischen Immigranten, seine Vorfahren, plötzlich nackten Índios gegenüber stand. 

Nach Augenblicken der Bestürzung und Ratlosigkeit, folgten drohende Gesten von beiden Seiten. Fäuste und Waffen wurden geschwungen und furchterregende Grimassen gezogen. Die einen stellten Verwundungen durch Harken, Äxte und Buschmesser in Aussicht. Die anderen streckten Keulen, Speere, Pfeile und Bögen in die Luft, ahmten deren Benutzung nach, gaukelten das unvermeidliche Blutbad vor. 

Das alles geschah, sagt Remy Valduga, ohne den Sicherheitsabstand zwischen den disputierenden Parteien, also den europäischen Eindringlingen und den Índios zu verringern. Das gegenseitige Drohen drohte langweilig zu werden. In diese Ruhe vor dem Sturm konnte jeden Moment ein Blitz fahren und den Krieg hervorrufen. 

Da kam einem Immigranten ein rettender Gedanke. Ohne länger zu überlegen, ließ er die Hose herunter und zeigte den verdutzten Eingeborenen sein stattliches und mächtiges Gemächt! Wenige Augenblicke nach dieser allerersten Porno-Darstellung auf brasilianischen Boden war kein Índio mehr zu sehen. Sie flohen vor dem unerwartet zur Schau gestellten Detail männlicher Anatomie, sagt Remy mit verschmitztem Lächeln. 

Mein austro-baianisches Hirn glaubt nicht, dass aus Afrika herbeigezerrte Sklaven sich von einem ähnlichen Porno-Spektakel hätten beeindrucken lassen.

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