Erzählungen aus der Kolonie
Von Reinhard
Lackinger
Jandir Crestanis Geburtstagsfeier erinnert an die
Aufführung einer Operette. Ein Bühnenstück in einem Akt, in einem "Churrasco"
mit viel selbst gekeltertem Wein, Akkordeonmusik und Gesang.
Ort der Handlung: der Weinkeller der „Pousada Ca´di
Valle“ im „Vale dos Vinhedos“ bei „Bento Gonçalves“, „Rio Grande do Sul“.
Männer stehen herum, nippen an Schnapsgläsern.
Neuangekommene schlagen Autotüren zu, ziehen die Aufmerksamkeit des Hausherren
an sich. Frauen tragen Speisen herbei. Salate, "Arroz de carreteiro"
und frittierte Polenta. Am Tor der Adega steht Jandirs Sohn Tiago an der Glut
der "Churrasqueira" und hantiert mit Messer und Gabel. Das
sieht so aus, als würde er, die zum Grillen aufgelegten Fleischstücke
dirigieren.
Nach dem Schnaps geht jeder zu seinem Stuhl an den der
Reihe nach aufgestellten Tischen. Es wird gemeinsam gebetet. Ein Augenblick,
der an das Refektorium eines Zisterzienserklosters erinnert. Dann geht es aber
gleich wieder zu wie auf Brueghels Gemälden. Vilma, Jandirs Ehefrau rückt
Teller und Platten zurecht, die Gäste zum Zugreifen animierend. Das beinahe
siebzig Jahre alte Geburtstagskind greift nach Weinflaschen, gießt Gläser voll.
Die Isabella-Trauben kommen vom Weingarten hinter seinen Häusern.
Bei solchen Ereignissen wäre kein anderes Getränk
denkbar. Auch wenn diese Art von Wein in Österreich gerne konsumiert wird,
ziehe ich normalerweise andere Trauben vor. Merlot, Pinot Noir, Cabernet Franc
und Tannat. Da ich aber weiß, wie Jandir den Wein macht, wundert es mich nicht,
dass ich am nächsten Morgen keine Kopfschmerzen habe. Ich erlebte den Prozess
schon mehrmals und habe gesehen, wie er und sein Schwager Teodoro nur die
reifsten und besten Früchte von den frisch geernteten Trauben zupfen. Es wird
zugeprostet und jeder greift zu. Remy Valduga, der Heimatdichter, ergreift das
Wort.
Ich kenne etliche Geschichten jenes Volkshistorikers.
Sowohl aus den obligaten und alljährlichen Erzählungen, als auch aus seinen
Büchern. Aus "Sonho de Imigrante", also "Traum eines
Einwanderers" und "Caçadores de Caramujos", die
"Schneckenjäger". Beide Titel behandeln die Geschichte italienischer
Immigranten. Eine Sage von Menschen, die in den späten Siebzigerjahren des
neunzehnten Jahrhunderts aufbrachen, ihr von Hunger geprägtes Leben in den
Bergen von Tirol, Trento und Vêneto verließen, und per Schiff in eine neue,
unbekannte Welt fuhren.
Ähnliche Erzählungen mit selbem südbrasilianischen
Hintergrund begannen bereits 1824 mit der Einwanderung protestantischer
Deutschen aus Pommern. Einige siedelten sich nahe der Küste von Santa Catarina
an. Andere drangen auf dem Seewege über die "Lagoa dos Patos"
bis „Porto Alegre“ vor, und dann weiter mit dem Boot über die Lagune „Guaíba“,
das Delta des Rio Jacuí bis tief in die Flüsse Rio dos Sinos und Rio Gravataí,
Rio Jacuí und Rio Caí. Eine Fahrt, stromaufwärts, die lange Jahre die
Muskelkraft der Passagiere strapazierte, Ruder und Stangen in Anspruch nahmen.
Die ersten Deutschen, die es von 1824 bis etwa 1830 in
diese Gegend verschlug, gelangten auf dem Rio dos Sinos bis zum heutigen Ort
São Leopoldo. Von 1835 bis 1845 und so lange der Bürger- und
Unabhängigkeitskrieg namens "Guerra dos farrapos", oder "Revolução
farroupilha" dauerte, kamen keine deutsche Immigranten nach Brasilien.
Der nächste Schub deutscher Einwanderer kam aus Baden Württemberg.
Ab 1870 kamen Italiener. Diese fuhren über das Jacuí
Delta den „Rio Caí“ hoch und bis Porto Maratá bei Montenegro. Von dort
ging es auf Eselsrücken und zu Fuß weiter bis zur heutigen Stadt Bento
Gonçalves. Da erwartete sie das Roden und Pflanzen und das nackte Überleben.
Die Italiener schufteten auf den ihnen zugewiesenen Grundstücken entlang der
"Linha", wie die Landstreifen der Kolonien genannt werden.
Parzellen, die sie im Laufe der Jahre bezahlen und abstottern mussten. Sie
ernährten sich großteils von den daumengroßen Samenkernen der Araukarien.
Riesige Pinienbäume, die nach wie vor die Landschaft Südbrasiliens prägen. Wenn
wir heute gekochte und geröstete "Pinhões", also jene
Samenkerne essen, erinnern wir uns nur selten und beiläufig an die Not der
europäischen Einwanderer. Immigranten, die ins Land geholt wurden, um schwarze
Zwangsarbeitskraft zu ersetzen.
Nicht nur harte Arbeit wartete auf die neuen Bewohner
des Landes. Ehe sie ihr Ziel erreichten, stießen sie mitunter auf Eingeborene.
Auf Índios „Caingangues“, die der ethnischen Säuberung und
systematischen Ausrottung durch die vom Staat angeheuerten "Bugreiros"
trotzten. Ureinwohner, die sich mit dem Verlust ihres Landes nicht abfinden und
in Frieden abhauen wollten.
Die Episode eines solchen unerwarteten Rendezvous ist
Remy Valdugas Lieblingsgeschichte. Er beschreibt, wie eine Gruppe von
italienischen Immigranten, seine Vorfahren, plötzlich nackten Índios gegenüber
stand.
Nach Augenblicken der Bestürzung und Ratlosigkeit,
folgten drohende Gesten von beiden Seiten. Fäuste und Waffen wurden geschwungen
und furchterregende Grimassen gezogen. Die einen stellten Verwundungen durch
Harken, Äxte und Buschmesser in Aussicht. Die anderen streckten Keulen, Speere,
Pfeile und Bögen in die Luft, ahmten deren Benutzung nach, gaukelten das
unvermeidliche Blutbad vor.
Das alles geschah, sagt Remy Valduga, ohne den Sicherheitsabstand
zwischen den disputierenden Parteien, also den europäischen Eindringlingen und
den Índios zu verringern. Das gegenseitige Drohen drohte langweilig zu werden.
In diese Ruhe vor dem Sturm konnte jeden Moment ein Blitz fahren und den Krieg
hervorrufen.
Da kam einem Immigranten ein rettender Gedanke. Ohne
länger zu überlegen, ließ er die Hose herunter und zeigte den verdutzten
Eingeborenen sein stattliches und mächtiges Gemächt! Wenige Augenblicke nach
dieser allerersten Porno-Darstellung auf brasilianischen Boden war kein Índio
mehr zu sehen. Sie flohen vor dem unerwartet zur Schau gestellten Detail
männlicher Anatomie, sagt Remy mit verschmitztem Lächeln.
Mein austro-baianisches Hirn glaubt nicht, dass aus
Afrika herbeigezerrte Sklaven sich von einem ähnlichen Porno-Spektakel hätten
beeindrucken lassen.
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