Sonntag, 19. Oktober 2014

Sonntagstext - 19. Oktober 2014



Der Zeugenbeweis                                   

von Manfred Kolb                        


ich fuhr im Berufsverkehr zu meiner Arbeitsstelle in der Innenstadt.

Je näher ich meinem Ziel kam, desto stockender gestaltete sich das Fortkommen. Ampel reihte sich an Ampel. In Sichtweite meiner Dienststelle angekommen, begann die tägliche Suche nach einem Parkplatz. Meistens hatte ich Glück und konnte die Ausgaben für einen kostspieligen Stellplatz im nahe gelegenen Parkhaus vermeiden.

Endlich erspähte ich einen freien Platz. Gerade als ich mit der Front meines BMW hineinfahren wollte, setzte ein vor mir haltender Mercedes Benz an, rückwärts in dieselbe Parklücke einzufahren.
Zentimeter um Zentimeter näherten sich unsere Fahrzeuge, bis sich unsere Stoßstangen berührten.

So standen wir beide, mein Vordermann und ich, je zur Hälfte in der Parklücke. Als mein Kontrahent keine Anstalten machte, mir das Feld zu überlassen, denn ich war nach meiner Auffassung früher da gewesen und hatte schon den größeren Teil der Freifläche eingenommen, stieg ich aus.

Mein Vordermann tat dasselbe und wir gingen die paar Schritte aufeinander zu. Bald standen wir einander Auge in Auge gegenüber.
Ein Wort gab das andere und bald war ein handfester Streit zwischen uns im Gange, wer ein Anrecht auf den Parkplatz hätte. Der Ton zwischen uns wurde lauter und schärfer. Wir nahmen eine drohende Haltung an.

Die Fäuste zur Abwehr eines möglichen Angriffs des Gegenübererhoben,  musterten wir uns mit finsteren Blicken. Handgreiflichkeiten rückten in greifbare Nähe.
Inzwischen waren auf dem Bürgersteig  Passanten stehen geblieben, die teils belustigt, teils kopfschüttelnd der Auseinandersetzung zwischen meinem Gegenüber und mir folgten.

Endlich löste sich ein jüngerer Herr mit Aktentasche aus der Menschentraube und sprach mein Gegenüber mit dem Mercedes-Benz an:
"Sie waren zuerst da. Ich habe es genau gesehen. Ich kann das bezeugen. Sie können auf mich zählen".
Eine Frau mit Hut mischte sich ein:
"nein, der Herr mit dem BMW war zuerst da. Der darf zuerst reinfahren".
Ein älterer Mann im Mantel schüttelte anhaltend den Kopf:
"ich habe genau beobachtet, wieder der Herr im BMW den Mann im Benz genötigt und bedroht hat. Das kann ich notfalls auch bezeugen".

"Das stimmt nicht", ereiferte sich eine junge Dame im Anorak, die sich erst jetzt zu der Menschengruppe gesellt hatte:
"Diese Mann da" - und ihr Finger zeigte auf den BMW-Fahrer - ,"hat zuerst zugeschlagen. Dabei ist der Mercedes-Fahrer im Recht".


"So ein Blödsinn", entfuhr es dem ältere Mann mit einer Zeitung in der Hand: "der andere hat zuerst zugeschlagen, der BMW-Fahrer hat sich nur verteidigt. Und eine Schramme hat der Benz dem BMW auch zugefügt. Da sehen Sie mal", fuhr er zur Menschenansammlung gewandt fort,  indem er triumphierend auf eine Schramme am linken Kotflügel des BMW zeigte.

Er reichte mir seine Visitenkarte, dier er aus seiner Brieftasche heraus geholt hatte: "hier ist meine Visitenkarte, sagte er mit fester Stimme. Wenn Sie mich als Zeugen vor Gericht benötigen. Ich stehe Ihnen zur Verfügung".

Mein Gegenüber war fassungslos. Die junge Dame im Anorak tröstete ihn: "Machen Sie sich keine Sorgen. ich stehe zu Ihnen. Sie haben nichts verbrochen. Die Schramme war sicher schon. Und ihre Verletzung heilt bald wieder".

Wir Kontrahenten hatten während der Zeugenaussagen langsam  unsere Fäuste gesenkt und schauten uns schweigend an.

"Wie unschuldig er tut", ereiferte sich ein Pärchen, das sich bisher nicht eingemischt hatte: "typisch Mercedes-Fahrer. Geben nichts zu und nicht nach. Diesen arroganten Schnöseln sollet man den Führerschein wegnehmen".

Als wir immer noch untätig und schweigend da standen, begann sich die Menschenansammlung langsam aufzulösen.

Ein Herr sagte im Weggehn zu seiner Partnerin:" ich glaube, der BMW-Fahrer hätte bei der Schlägerei gewonnen".

Bald waren mein Gegenüber und ich allein.

Als wir sicher sein konnten, dass uns niemand mehr zusehen konnte,
drückten wir uns fest die Hand.
"Klaus", sagte ich, "das ist ja großartig gelaufen, besser als wir es uns erhoffen konnten. Niemand hat unser Schauspiel durchschaut. Nun haben wir genug Stoff für unser Referat über die Qualität von Zeugenaussagen im Straßen-verkehr. Das werden die Richter bei Gerichtsverhandlungen in Straßen-verkehrsangelegenheiten wohl besonders berücksichtigen müssen!"



ENDE

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