Der Zeugenbeweis
von Manfred Kolb
ich
fuhr im Berufsverkehr zu meiner Arbeitsstelle in der Innenstadt.
Je
näher ich meinem Ziel kam, desto stockender gestaltete sich das Fortkommen.
Ampel reihte sich an Ampel. In Sichtweite meiner Dienststelle angekommen,
begann die tägliche Suche nach einem Parkplatz. Meistens hatte ich Glück und
konnte die Ausgaben für einen kostspieligen Stellplatz im nahe gelegenen
Parkhaus vermeiden.
Endlich
erspähte ich einen freien Platz. Gerade als ich mit der Front meines BMW
hineinfahren wollte, setzte ein vor mir haltender Mercedes Benz an, rückwärts
in dieselbe Parklücke einzufahren.
Zentimeter
um Zentimeter näherten sich unsere Fahrzeuge, bis sich unsere Stoßstangen
berührten.
So
standen wir beide, mein Vordermann und ich, je zur Hälfte in der Parklücke. Als
mein Kontrahent keine Anstalten machte, mir das Feld zu überlassen, denn ich
war nach meiner Auffassung früher da gewesen und hatte schon den größeren Teil
der Freifläche eingenommen, stieg ich aus.
Mein
Vordermann tat dasselbe und wir gingen die paar Schritte aufeinander zu. Bald standen
wir einander Auge in Auge gegenüber.
Ein
Wort gab das andere und bald war ein handfester Streit zwischen uns im Gange,
wer ein Anrecht auf den Parkplatz hätte. Der Ton zwischen uns wurde lauter und schärfer.
Wir nahmen eine drohende Haltung an.
Die
Fäuste zur Abwehr eines möglichen Angriffs des Gegenübererhoben, musterten wir uns mit finsteren Blicken. Handgreiflichkeiten
rückten in greifbare Nähe.
Inzwischen
waren auf dem Bürgersteig Passanten
stehen geblieben, die teils belustigt, teils kopfschüttelnd der Auseinandersetzung
zwischen meinem Gegenüber und mir folgten.
Endlich
löste sich ein jüngerer Herr mit Aktentasche aus der Menschentraube und sprach mein
Gegenüber mit dem Mercedes-Benz an:
"Sie waren zuerst da. Ich habe es genau gesehen. Ich kann
das bezeugen. Sie können auf mich zählen".
Eine
Frau mit Hut mischte sich ein:
"nein, der Herr mit dem BMW war zuerst da. Der darf zuerst
reinfahren".
Ein
älterer Mann im Mantel schüttelte anhaltend den Kopf:
"ich habe genau beobachtet, wieder der Herr im BMW den Mann
im Benz genötigt und bedroht hat. Das kann ich notfalls auch bezeugen".
"Das stimmt nicht", ereiferte sich eine junge Dame
im Anorak, die sich erst jetzt zu der
Menschengruppe gesellt hatte:
"Diese Mann da" - und ihr Finger zeigte auf den BMW-Fahrer - ,"hat zuerst zugeschlagen. Dabei ist der Mercedes-Fahrer
im Recht".
"So ein Blödsinn", entfuhr es dem ältere Mann mit
einer Zeitung in der Hand: "der andere hat
zuerst zugeschlagen, der BMW-Fahrer hat sich nur verteidigt. Und eine Schramme
hat der Benz dem BMW auch zugefügt. Da sehen Sie
mal", fuhr er zur Menschenansammlung gewandt fort, indem er triumphierend auf eine Schramme am
linken Kotflügel des BMW zeigte.
Er
reichte mir seine Visitenkarte, dier er aus
seiner Brieftasche heraus geholt hatte: "hier
ist meine Visitenkarte, sagte er mit fester Stimme. Wenn Sie mich als Zeugen
vor Gericht benötigen. Ich stehe Ihnen zur Verfügung".
Mein
Gegenüber war fassungslos. Die junge Dame im Anorak tröstete ihn: "Machen Sie sich keine Sorgen. ich stehe zu Ihnen. Sie
haben nichts verbrochen. Die Schramme war sicher schon. Und ihre Verletzung heilt bald wieder".
Wir
Kontrahenten hatten während der Zeugenaussagen langsam unsere Fäuste gesenkt und schauten uns
schweigend an.
"Wie unschuldig er tut", ereiferte sich ein Pärchen,
das sich bisher nicht eingemischt hatte: "typisch
Mercedes-Fahrer. Geben nichts zu und nicht nach. Diesen arroganten Schnöseln sollet
man den Führerschein wegnehmen".
Als
wir immer noch untätig und schweigend da standen, begann sich die
Menschenansammlung langsam aufzulösen.
Ein
Herr sagte im Weggehn zu seiner Partnerin:" ich
glaube, der BMW-Fahrer hätte bei der Schlägerei gewonnen".
Bald
waren mein Gegenüber und ich allein.
Als
wir sicher sein konnten, dass uns niemand mehr zusehen konnte,
drückten
wir uns fest die Hand.
"Klaus", sagte ich, "das ist ja großartig gelaufen, besser als wir es uns
erhoffen konnten. Niemand hat unser Schauspiel durchschaut. Nun haben wir genug
Stoff für unser Referat über die Qualität von Zeugenaussagen im Straßen-verkehr.
Das werden die Richter bei Gerichtsverhandlungen in
Straßen-verkehrsangelegenheiten wohl besonders berücksichtigen müssen!"
ENDE
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