Dienstag, 21. April 2015

Der Fischer von Locronan



Von Insa Segebade

 
Deine Stimme war es, in die ich mich zuerst verliebte. Sie war überhaupt das Erste, was ich von dir wahrnahm. Damals, am Hafen von Morgat. Ich saß auf der Mole und zeichnete als Fingerübung eine rote Katze, versperrte dir dabei den Weg, als du mit einer Kiste Langusten vorbei wolltest. „Excusez-moi, Mademoiselle“, sagtest du, und ich spürte, wie deine Stimme, wie du tief in mich eindrangst und dort etwas zum Schwingen brachtest, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es da war. Der Bleistift rollte mir aus der Hand, landete leise platschend im Wasser. Ein Windstoß nahm das Papier mit sich fort, nahm alles mit sich fort, was ich bis dahin für wichtig gehalten hatte, um Platz zu machen für Neues, nein, Anderes, denn neu – das war mein Leben an deiner Seite nicht. Eher war es so, dass ich dich gefunden, endlich wieder gefunden hatte. Als ich aufsah, verrieten mir deine Augen, grau-grün wie die See, dass du genau so empfandest. Du stelltest die Kiste mit den Langusten ab und reichtest mir die Hand. Eine große, raue Hand voller Schwielen, nach der ich ohne zu zögern griff. Gewiss, sie nie mehr loszulassen. Gewiss, nie mehr von ihr losgelassen zu werden.
Du lebtest allein in dem kleinen Haus oberhalb des Strandes von Locronan. Dein Großvater hatte es gebaut. Ganz schief war es inzwischen, zur Landseite gebeugt, als habe es irgendwann dem Sturm, der vom Meer kam, seufzend nachgegeben. Aus einem einzigen Raum bestand das mit Schieferplatten gedeckte Haus. Über dem Kamin zog sich ein Riss durch die Wand, durch den, scharf wie ein Messer, ein Strahl der untergehenden Sonne drang. Der Boden war so schräg, dass ich das Gefühl hatte, auf schwankenden Deckplanken zu gehen. Als du die Tür öffnetest und vor mir hineingingst, fiel dir eine Konservendose aus der Armbeuge. Sie kullerte längs durch den ganzen Raum, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite unter dem Geschirrschrank liegen blieb.
Noch am selben Tag, als wir uns auf der Pier in Morgat trafen, ludst du mich zu dir ein. Während du kochtest, fragtest du, ob es unschicklich sei, bei dir zu essen, anstatt mich in ein Restaurant auszuführen. Ich zerstreute deine Bedenken mit einem Lächeln und schaute mich in dem kleinen Haus um, in dem nur ein alter, gusseiserner Herd stand, auf dem es in drei Töpfen leise vor sich hin brodelte, ein hölzerner Tisch mit zwei Stühlen, ein Bett mit zahlreichen Decken und Kissen sowie ein Geschirrschrank aus dunklem, glänzendem Holz, in dem bunt bemalte Teller standen, von denen bereits deine Vorfahren gegessen hatten, wie du mir erklärtest.
Ich weiß nicht mehr, wie viel Tassen Kaffee, wie viel Gläser Wein wir nach dem Essen tranken. Als ich mir ein kleines Gähnen nicht verkneifen konnte, ging bereits die Sonne auf. Du warst bestürzt, weil du mich um den Schlaf gebracht hattest. Wieder zerstreute ich deine Bedenken mit einem Lächeln, bot an, den Abwasch zu machen, während du deine Gummistiefel anzogst und dich bereit machtest, mit deinem kleinen Boot hinauszufahren.
Bald standen die Teller wieder ordentlich im Regal des Geschirrschranks, das schwere Silberbesteck in der mit purpurnem Samt ausgeschlagenen Schublade darunter. Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen, aber der Wunsch, mehr von dir zu erfahren, war größer. Also zog ich auch die unteren beiden Schubladen auf. Was hatte ich erwartet? Dokumente, Briefe, Fotoalben, ein Tagebuch vielleicht? Aber da war nichts außer ein paar Hosen und Hemden zum Wechseln. Mehr nicht, wunderte ich mich und verschloss verschämt die Laden.
Als ich mich aufrichtete, fühlte ich eine bleierne Schwere in meinen Gliedern und ließ mich zwischen all die Decken und Kissen auf dein Bett fallen. Ich glaubte noch, ein sanftes Singen zu hören, bevor ich tief und fest schlief. Ich erwachte erst, als du zur Tür hereinkamst. Noch benommen vom Schlaf, entging mir doch nicht das Lächeln auf deinem Gesicht, als du mich sahst.
Um nichts auf der Welt hättest du es verlassen und im Stich gelassen, das kleine Haus oberhalb des Strandes von Locronan. Du fühltest dich sicher in seinen Wänden, unter seinem Dach. Nachts, wenn der Sturm an den Fensterläden rüttelte und das Haus ächzte und ich mich ängstlich an dich schmiegte, lachtest du nur. „Keine Angst“, sagtest du in der Gewissheit, dass deine Vorfahren nicht zulassen würden, dass die grob behauenen Natursteine, aus denen sie das Haus wie ein Puzzle zusammengesetzt hatten, uns unter sich begraben würden.
Das Tuscheln der anderen nahmst du nicht wahr. Auch ich versuchte, es zu überhören, begann aber bald, nachdem ich bei dir eingezogen war, unser Brot selbst zu backen. Nur einzelne zusammenhanglose Worte stahlen sich aus dem Zischen und Säuseln ihrer Münder in mein Ohr. Nur einmal verstand ich, wie die Alte aus dem Nachbarhaus sagte, während ich an ihr vorbeiging: „Wenigstens keine Kinder. Es ist genug.“ Ich hätte einfach meinen Weg fortsetzen sollen, doch ich blieb stehen, sah die Alte an, die meinem Blick trotzig standhielt.
„Die alte Laure. Sie ist harmlos“, sagtest du kopfschüttelnd, als ich dir davon erzählte. Harmlos im Vergleich zu den Leuten in der Stadt, in der du damals studiertest. Du warst ein Außenseiter. Sie merkten, dass du anders warst, obwohl du versuchtest, wie sie zu sein. Aber du konntest es nicht verbergen und kamst zurück. Zurück an den Ort, an dem man wusste, dass die Dubois’ eben anders waren, aber nie jemandem etwas zuleide taten. Wir haben sie nie verlassen, unsere Halbinsel, und gingen den Hauptstädtern, die in den Sommermonaten einfielen, aus dem Weg.
Anfangs dachte ich, sie trieben ihre Späße mit dir, wenn sie dir Grüße an deinen Vater und deinen Großvater auftrugen. Aber nein, es war ernst gemeint, stellte ich mit der Zeit fest. „Sie glauben tatsächlich, dass in unserem kleinen Haus eine Großfamilie lebt“, sagte ich. Du lächeltest nur. Wusstest, dass ich noch nicht bereit war zu verstehen. Sicher hast du gehofft, dass ich es wäre, als der Sturm dein Boot wie einen Ball auf den Wellen hin und her warf, mit ihm spielte wie eine Katze mit einer Maus spielt, nur um es schließlich an den Klippen zerschellen zu lassen.
Von meinen Träumen hatte ich dir nicht erzählt. Ich hatte Angst, dass du sie mit einem Lächeln abtun könntest. Ahnungen und Visionen? Nein, die könne ein Stadtmensch wie ich nicht haben, glaubte ich bereits deine Stimme zu hören. Diese Gabe ginge im Lärm, im Stress, in der Hektik unter. Mag tatsächlich sein, dass es auch bei mir einmal so war. Mag sein, dass ich es so gewollt hatte – nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu begreifen. Aber das ist vorbei. Jetzt bin ich eine von euch. Doch zuerst schüttelte ich meine Träume nach dem Erwachen ab wie die Decken, unter denen wir nachts lagen. Aber dann kamen sie auch tagsüber, überlagerten das Hier und Jetzt, ließen es erstarren, verblassen. Als ich dich bat, nicht hinauszufahren, sahst du mich nur verwundert an.
Ile d’Ouessant heißt die Insel an der Westküste der Bretagne. Seeleute umfahren sie in einem weiten Bogen, die Ile d’Ouessant. Sie ist von einem Gürtel aus Riffs umgeben, der schon unzählige Schiffsrümpfe aufgeschlitzt hat. Hier fand man dich nach drei Wochen. Eingeklemmt zwischen zwei Felsblöcken, deren Spitzen nur bei Ebbe zu sehen waren. Noch immer trieben die Wellen ihren Schalk mit dir, stupsten dich an, ließen dich einen makaberen Tanz aufführen und dich mit schlaffem Arm der Fähre zuwinken, die eine Horde Touristen zurück nach Le Conquet brachte.
Sie sagten, es sei ein Glück, dass man dich fand und auf dem Friedhof in Morgat beerdigen konnte, denn die meisten, die die See sich nimmt, gibt sie nicht mehr frei. Wie deinen Vater und deinen Großvater. Glück? Was verstanden sie unter Glück? Du warst fort. Anfangs tat ich so, als seiest du noch da. Als seiest du nur mit dem Boot hinaus und würdest gleich zur Tür hereinkommen. Vergebens. Dann redete ich mir ein, du wärst noch da, und ich könnte dich nur nicht sehen. Ich schrieb dir Briefe und wusste nicht, wohin ich sie schicken sollte. Ich redete in die Stille und bekam keine Antwort. Nur das Echo des scheppernden Kupferkessels, den ich wütend an die Wand warf, hallte in meinem Kopf nach.
Ich wollte fortgehen. Was zählte sie noch, die Schönheit, die mich hier umgab, wenn du nicht da warst, um sie mit mir zu teilen? Aber das Meer, sein ewiges Rauschen, es hielt mich. Nachts, wenn ich allein zwischen den klammen Decken und Kissen lag, die meine Körperwärme allein nie zu erwärmen vermochte, und keinen Schlaf fand. Wenn ich mich nach deinen Händen, deinen rauen Händen voller Schwielen sehnte, die mich in der Nacht zärtlich hielten. Nach deinem Mund, der mich liebkoste. Deinem Leib, der mich bedeckte. Ein stetiges tiefes Brummen im Hintergrund, davor das höhere Geräusch, der Sopran der sich brechenden Wellen, die im Sand ausliefen. Dazwischen deine beschwörende Stimme. „Bleib“, wispertest du, „geh nicht fort! Ich bin hier.“
Dann diese Nacht im November. Zitternd und frierend verbrachte ich sie auf einem Felsen am Strand von La Palue. Ich hatte auf die Flut gesehen, die Zeit vergessen, war plötzlich vom Wasser eingeschlossen, hinter mir eine steile Felswand. Im Licht des Mondes veränderte sich ein Vorsprung, die Zacken im schwarzen Basalt wurden lebendig, wurden zu Gesichtern, Hunderten von Gesichtern mit weit aufgerissenen Mündern, den Gesichtern Ertrunkener, unter denen ich auch deines zu erkennen glaubte, obwohl dein weit aufgerissener Mund, aus dem Stille quoll, deine Züge verzerrte.
Nachts, du kamst nur nachts, doch war ich lange nicht bereit, dich zu empfangen. Zu groß die Angst, deinen aufgequollenen, von den Felsen zerschnittenen Körper zu sehen, in dem jeder einzelne Knochen zerschmettert war. Die Augenhöhlen leer, Seetang in den Haaren, die Haut durchsichtig, marmorn, dein Gesicht, ich würde nicht wagen, hinein zu sehen. Hinein zu sehen in das Gesicht, das doch alles war für mich. Schöner als jedes Gemälde, als jeder Sonnenuntergang. Und was, wenn du nicht allein kämst? Was, wenn deine Vorfahren bei dir wären?
Was ich nachts fürchtete, sehnte ich am Tage herbei. Nein, ich lasse mich nicht gehen, sei ganz beruhigt. Unser Haus halte ich sauber, tausche die Schindeln aus, wenn sie zerbrechen, streiche die Fensterläden und die Wände, wenn der Schimmel sie schwarz färbt. Nur die Alte von nebenan, Laure nanntest du sie, der gehe ich aus dem Weg. Aber neulich, da eilte sie in ihr Haus, als sie mich sah, um gleich darauf mit einem Bild in der Hand wieder herauszukommen. Sie rief mich. Zögernd näherte ich mich ihr. Zu langsam ging ihr das. Sie kam mir entgegen, drückte mir wortlos das Bild in die Hand, ein schwarz-weißes Foto, vergilbt und schon ganz verknickt, als hätte es in einer Ritze zwischen zwei Steinen gesteckt. Ich erkannte ein Hochzeitspaar. Seiner Kleidung nach zu urteilen, musste das Bild vor etwa achtzig Jahren aufgenommen worden sein. War es Laures Hochzeitsfoto? Ich warf noch einen flüchtigen Blick darauf, aber die Alte wies resolut meinen Arm zurück, als ich ihr das Foto zurückgeben wollte. „Schauen Sie genau hin, auf die Gesichter.“
Ich seufzte und schaute auf den ernst dreinblickenden Mann. Groß war er und von kräftiger Statur, seine Augen schienen selbst auf dem alten Foto zu leuchten. Und seine Züge ... nein, das konnte nicht sein, sagte ich mir und ließ meinen Blick weiterwandern zur Braut – und erstarrte. Nein, auch das konnte nicht sein, musste ein dummer Zufall sein. „Sein Urgroßvater und seine Urgroßmutter“, hörte ich die Alte sagen. Aus weiter Ferne kam ihre Stimme, dabei stand sie doch direkt neben mir. „Das Hochzeitsbild seiner Großeltern und seiner Eltern hätte genau so ausgesehen. Nur die Kleidung wäre eine andere gewesen. Aber da haben sie keine Fotos mehr gemacht. Haben Sie ein Hochzeitsbild?“ Ich schüttelte den Kopf. „Dann behalten Sie das. Kommt ja irgendwie aufs Gleiche heraus.“ Die Alte schlurfte in ihr Haus zurück, und ich ... ich stand da wie versteinert und wagte nicht, noch einmal auf dieses Bild in meiner Hand zu sehen. Ich hielt es weit von mir und vertraute es dem Wind an, als eine Böe mir die Haare ins Gesicht blies.
Dann fühlte ich diese Ruhe. Und mit ihr schwand die Angst. Und du, du warst mir willkommen. Dein Grab, das besuchte ich nicht mehr. Wozu auch? Komm zu mir, mein Gelieber. Komm dorthin, wohin du gehörst. Ich fürchte mich nicht mehr. Egal, ob es Tag ist oder Nacht. Egal, ob dein Leib zerschunden ist oder unversehrt. Ich weiß, du wirst mir nichts tun. Und wenn doch ... was gäbe es Schöneres, als auf diese Weise aus dieser Welt zu scheiden. Was sagst du, Geliebter? Ja, sei nicht ungeduldig, ich komme doch. Ich reiche dir meine Hand, streichle dir deine kalte Wange, küsse dir das Salzwasser von der Stirn, hauche deinen blauen Lippen Leben ein. 




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