Dienstag, 22. Dezember 2015

Adventskalender 2015 - Türchen Nr. 22



Warten
von Insa Segebade
 
Das Café des Arts ist eines der ältesten Cafés in der Stadt. Die hohen Wände des rechteckigen Raums mit dem Kuppeldach erinnern an die Wartehalle eines Bahnhofs um die Jahrhundertwende. Hohe Fenster, durch die die letzten Strahlen einer untergehenden Sonne fallen. Holzvertäfelungen an den Wänden, mit Schnitzereien übersät. Vögel, Blumenranken, Farne, unheimliche Fabelwesen. Die Tische sind symmetrisch angeordnet. In vier Reihen durchlaufen sie den gesamten Raum. Erst die Theke aus schwerem, dunklem Holz gebietet ihnen Einhalt. Drei schmale Gänge sind frei, durch die Kellner in schwarzen Anzügen hin und her eilen.
Ich sitze an einem kleinen Tisch mit einer blütenweißen Tischdecke. In der Mitte der Längsseite, die gegenüber der Eingangstür liegt. Der lange verschnörkelte Zeiger der großen Bahnhofsuhr, Relikt einer vergangenen Zeit, steht kurz vor der Sechs. Um halb acht wollte er mich hier treffen. Das war seine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Die erste seit fünf Jahren.
Ein Kellner mit makellosem Teint und zurückgekämmten, pomadeglänzenden Haaren kommt an meinen Tisch. In Cafés oder Restaurants mit Kellnern in schwarzen Anzügen und weißen Tischdecken habe ich mich schon immer unbehaglich gefühlt. Das sind die Orte, an denen man sein Glas mit dem Ärmel vom Tisch fegt oder nicht weiß, wie man seinen Salat essen soll. Meine Eltern mochten diese Restaurants. Oft saß ich zwischen ihnen in meinem Sonntagsstaat auf hohen, unbequemen Stühlen. Weiße Teller mit Goldrand auf gestärkten Leinen. Da war diese Kartoffel, die ich mit der Gabel zerquetschen wollte. Sie sprang vom Teller über das weiße Leinentuch, wo sie einen braunen Soßenfleck hinterließ, auf den Teppich. Ich beugte mich über meinen Teller und hoffte, niemand hätte es bemerkt, als auch schon ein befrackter Kellner herbeisprang, stirnrunzelnd die Kartoffel aufhob und mit spitzen Fingern in einen Abfalleimer hinter der Theke fallen ließ.
Ich frage mich, warum er mich in diesem Café treffen will. Damals gingen wir in Kneipen mit zerkratzten und fleckigen Tischen, auf denen verschütteter Kaffee nicht auffiel. Komisch, dass ich dort nie etwas verschüttet habe. Ich bestelle einen Cappucchino. Mit aufgeschlagener Milch, fragt der Kellner. Mit Sahne, antworte ich, obwohl ich Cappucchino immer mit aufgeschlagener Milch trinke. Ich schaue dem Kellner in die Augen, lächle ihn an, während ich nach einem Glas Wasser frage. Er erwidert meinen Blick, lächelt zurück und registriert mit einem Nicken die Bestellung. Dann wendet er sich mit dem gleichen Lächeln an den Nachbartisch.
In einer Wandnische steht eine Figur aus Holz. Sie thront auf einem Messingblock und starrt mich aus schwarzen Augen an. Die braun lackierten Haare umschließen das kalte Gesicht wie eine Löwenmähne. Dann sehe ich die feinen Risse an ihrem Körper, die an einigen Stellen die Lackschicht gesprengt und kleine Farbpartikel abgestoßen haben. Und sind die kleinen, dunklen Löcher auf den gefalteten Händen nicht die Spuren eines Holzwurms?
Ich summe das Lied mit, das der Klavierspieler anschlägt. "People". Früher habe ich es oft gehört, gesummt, gesungen. Das Richtige für traurig-melancholische Stunden. Wie sieht er jetzt aus? Werden wir uns fremd geworden sein? Abgestumpft nach dem erst verdrängten, irgendwann auch verarbeiteten Trennungsschmerz? Der lange Zeiger der Bahnhofsuhr ist jetzt steil nach unten gerichtet. Ich schaue auf die Eingangstür.

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