Montag, 15. Dezember 2014

Adventskalender 2014 - 15. Advent



Obdachlos

von Ferdinand Planegger

Ich ging in Richtung Innenstadt, immer knapp an den Hauswänden entlang um den ärgsten Regengüssen zu entkommen. Nicht nur von oben drohte ich durchnässt zu werden – auch von unten – ein Schuh war im Begriff sich aufzulösen. Die Sohle an der Vorderseite klappte auf wie ein Entenschnabel und jeder Fehltritt in eine der vielen Wasserlachen bescherte mir ein Fussbad. Endlich erreichte ich meinen Unterstand, das Wartehäuschen an der Bushaltestelle gegenüber dem Schloss. Das stand für mich strategisch günstig, denn gleich daneben befand sich ein Würstelstand, der mir so manche Hungernacht erspart hatte. Der Würstelmann leerte nämlich nach Feierabend seine Restbestände an unverkauften und vom heißen Wasser ausgelaugten Frankfurter und Krainerwürstl in den öffentlichen Mistkübel. An guten Tagen hätte ich damit eine Familie ernähren können. Heiliger Abend war kein guter Tag, auch nicht für den Würstlmann, er hatte früh geschlossen und keine Restbestände hinterlegt. Der Tag versank im Nebel, die Lichter der Autos wurden schemenhafter. Mir schien, als ob die Stadt langsam zur Ruhe käme. Eine lange Nacht lag vor mir.
Ich stand schon einige Zeit an der Bushaltestelle im Wartehäuschen, zum Nieselregen hatte sich ein kalter Nordwind gesellt. Dick vermummte Gestalten räumten beim Weihnachtsmarkt vor dem Schloss die letzten Lebkuchen aus den Verkaufsbuden in die Autos. Für sie war Feierabend in diesem Jahr. Was machten die Glühweinverkäufer eigentlich mit den übriggebliebenen heißen Bauchwärmern?
Ich blieb nicht allein in meinem Unterstand, zwei Frauen und eine Oma mit zwei Enkelkindern warteten mit mir auf den letzten Bus. Für sie war ich ein ganz gewöhnlicher Mann. Wie sollten sie wissen, dass ich nirgendwohin fuhr. Wohin auch?  Es gab kein Zuhause. Die Leute wurden immer weniger, alle hasteten weiter, der warmen Stube entgegen. Der letzte Bus fuhr langsam in die Haltebucht, zischend öffneten sich die Drucklufttüren. Niemandem fiel auf, dass ich nicht einstieg, jeder war mit sich selbst beschäftigt. Ich war wieder einmal übrig geblieben. Vor mir die große Weihnachtstanne , dieses  Jahr kam sie aus der Steiermark, meiner früheren Heimat, die auch die Waldheimat Peter Roseggers war, meinem Lieblingsautor aus Kindertagen. Im Schloss wurde die Festbeleuchtung ausgeschaltet, nur eine Tafel mit einer Weihnachtsbotschaft des Bürgermeisters war noch zu sehen. Die Kerzen der Steirertanne strahlten wie Sterne - oder waren es ein paar Tränen, die den Blick verschleierten und die Regentropfen zum Leuchten brachten? Ich weiß es nicht mehr, ich wusste nur eines, ich musste irgendwo unterschlüpfen um diese Nacht zu überleben.
Mit mir allein gelassen, fing ich an, mich umzusehen in meinem Wartehäuschen. An den Glaswänden klebten bunte Hinweise auf verschiedenste Veranstaltungen. Das interessanteste Plakat war eine Vorankündigung einer Gastspielreise von Harry Belafonte: „Island in the Sun“. Ich mochte Harry Belafonte schon immer. Nicht nur seine samtraue Stimme faszinierte mich seit jeher, auch sein persönlicher Einsatz für die Schwarzen in Amerika und die Minderheiten dieser Welt hatte mich sehr beeindruckt. Mein Unterstand wurde zur Bühne - ich träumte mich in karibische Nächte und summte vor mich hin - die Sentimentalität des Heiligen Abends schien vergessen.
Ich bekam Besuch in meiner bescheidenen Hütte, ein sichtlich betrunkener Mann schlurfte in meine Richtung, geradewegs auf mich zu. Er fluchte leise vor sich hin, offensichtlich hatte sich bei einer seiner Tragetaschen der Henkel gelöst. Er hatte alle Hände voll zu tun, dass der Inhalt nicht auf den Boden fiel. Bei mir angekommen, stellte er seine scheppernde Tasche auf die schmale Bank,  nicht ohne kräftig weiterzufluchen wegen seines Missgeschicks. Ich bot ihm meine Hilfe an und meine Ahnung, dass er da Trinkbares transportierte,  bestätigte sich. Er erzählte mir, dass er als Portier und Hausmeister in einer kleinen Privatklinik arbeitet und heute Dienst gehabt hatte. Das sei ein guter Tag gewesen, meinte er, denn viel Klinikpersonal  hätte sich bei ihm bedankt und ihm Geschenke in Form von Wein und Hochprozentigem gebracht. Das ist bei uns so Brauch, sagte er und spendierte mir eine Flasche meiner Wahl. Gemeinsam köpften wir einen  Beaujolais und rauchten Zigarillos, ebenfalls aus dem Geschenkefundus meines neuen Freundes. Wie immer, wenn ich meinen Alkoholpegel in den richtigen Level gebracht hatte, stellte sich Wohlbefinden ein. Mein neuer Kumpel bekam dann doch leichte Gewissensbisse wegen seiner Frau, die er schon fast vergessen hatte. Seine Einladung, mit ihm in sein nahegelegenes Domizil mitzukommen, habe ich dann doch abgelehnt.
Die Anonymität der Stadt hat auch etwas Gutes, besonders für einen Nichtsesshaften wie mich. Solange ich halbwegs nüchtern war, achtete ich penibel darauf, dass niemand meine Not an meinem Äußeren ablesen konnte. Jedenfalls glaubte ich, dass es so sei. Ich glaubte an mich und redete mir ein, dass, solange ich mich selbst als einen guten, ehrlichen Mann sah, es die anderen auch tun müssten.
Mit diesen Gedanken im Kopf verließ ich mein Wartehäuschen und begab mich auf die Suche nach einer geeigneten Schlafstelle. Während meiner letzten Streifzüge durch die Stadt war mir eine Baustelle aufgefallen, die meinen Kriterien für eine unentdeckte Übernachtung einigermaßen entsprach. Das Erdgeschoss eines Bürohauses wurde umgebaut zu einem Geschäftslokal. An Wochenenden und Feiertagen war also keine größere Störung durch Hausbewohner zu befürchten. Der Bauzaun war kein echtes Hindernis, ich konnte ihn leicht zur Seite schieben, ohne etwas zu zerstören. Das war mir wichtig, denn ich wollte ja erstens wiederkommen und zweitens nicht als Einbrecher gelten. Ich wollte nur meinem geschundenen Körper etwas Ruhe gönnen und ihn vielleicht etwas erwärmen. Zum Glück fand ich im hinteren Teil einen dunklen Raum, zwar ohne Türen, aber immerhin nicht sofort von der Straße einsehbar. An der Rückwand befand sich ein Heizkörper, der sogar etwas Wärme spendete. Super! Schnell suchte ich ein paar Styroportafeln und kam in den Genuss dieses wärmedämmenden Materials. Zwei Tafeln dienten als Unterlage und eine als Kopfstütze am gerippten Heizkörper. Mein Parka wurde zur Decke umfunktioniert und so döste ich leise vor mich hin. Der leichte Kick vom Beaujolais ließ mich zufrieden in die weihnachtliche Straßenbeleuchtung träumen. Alles wird gut!


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