Obdachlos
von Ferdinand Planegger
Ich
ging in Richtung Innenstadt, immer knapp an den Hauswänden entlang um den
ärgsten Regengüssen zu entkommen. Nicht nur von oben drohte ich durchnässt zu
werden – auch von unten – ein Schuh war im Begriff sich aufzulösen. Die Sohle
an der Vorderseite klappte auf wie ein Entenschnabel und jeder Fehltritt in
eine der vielen Wasserlachen bescherte mir ein Fussbad. Endlich erreichte ich
meinen Unterstand, das Wartehäuschen an der Bushaltestelle gegenüber dem
Schloss. Das stand für mich strategisch günstig, denn gleich daneben befand
sich ein Würstelstand, der mir so manche Hungernacht erspart hatte. Der
Würstelmann leerte nämlich nach Feierabend seine Restbestände an unverkauften
und vom heißen Wasser ausgelaugten Frankfurter und Krainerwürstl in den öffentlichen
Mistkübel. An guten Tagen hätte ich damit eine Familie ernähren können.
Heiliger Abend war kein guter Tag, auch nicht für den Würstlmann, er hatte früh
geschlossen und keine Restbestände hinterlegt. Der Tag versank im Nebel, die
Lichter der Autos wurden schemenhafter. Mir schien, als ob die Stadt langsam
zur Ruhe käme. Eine lange Nacht lag vor mir.
Ich stand schon einige Zeit an der Bushaltestelle im
Wartehäuschen, zum Nieselregen hatte sich ein kalter Nordwind gesellt. Dick
vermummte Gestalten räumten beim Weihnachtsmarkt vor dem Schloss die letzten
Lebkuchen aus den Verkaufsbuden in die Autos. Für sie war Feierabend in diesem
Jahr. Was machten die Glühweinverkäufer eigentlich mit den übriggebliebenen
heißen Bauchwärmern?
Ich blieb nicht allein in meinem Unterstand, zwei Frauen
und eine Oma mit zwei Enkelkindern warteten mit mir auf den letzten Bus. Für
sie war ich ein ganz gewöhnlicher Mann. Wie sollten sie wissen, dass ich
nirgendwohin fuhr. Wohin auch? Es gab
kein Zuhause. Die Leute wurden immer weniger, alle hasteten weiter, der warmen
Stube entgegen. Der letzte Bus fuhr langsam in die Haltebucht, zischend
öffneten sich die Drucklufttüren. Niemandem fiel auf, dass ich nicht einstieg,
jeder war mit sich selbst beschäftigt. Ich war wieder einmal übrig geblieben. Vor
mir die große Weihnachtstanne , dieses
Jahr kam sie aus der Steiermark, meiner früheren Heimat, die auch die
Waldheimat Peter Roseggers war, meinem Lieblingsautor aus Kindertagen. Im
Schloss wurde die Festbeleuchtung ausgeschaltet, nur eine Tafel mit einer
Weihnachtsbotschaft des Bürgermeisters war noch zu sehen. Die Kerzen der
Steirertanne strahlten wie Sterne - oder waren es ein paar Tränen, die den
Blick verschleierten und die Regentropfen zum Leuchten brachten? Ich weiß es
nicht mehr, ich wusste nur eines, ich musste irgendwo unterschlüpfen um diese Nacht
zu überleben.
Mit mir allein gelassen, fing ich an, mich umzusehen in
meinem Wartehäuschen. An den Glaswänden klebten bunte Hinweise auf
verschiedenste Veranstaltungen. Das interessanteste Plakat war eine
Vorankündigung einer Gastspielreise von Harry Belafonte: „Island in the Sun“.
Ich mochte Harry Belafonte schon immer. Nicht nur seine samtraue Stimme
faszinierte mich seit jeher, auch sein persönlicher Einsatz für die Schwarzen
in Amerika und die Minderheiten dieser Welt hatte mich sehr beeindruckt. Mein Unterstand
wurde zur Bühne - ich träumte mich in karibische Nächte und summte vor mich hin
- die Sentimentalität des Heiligen Abends schien vergessen.
Ich bekam Besuch in meiner bescheidenen Hütte, ein
sichtlich betrunkener Mann schlurfte in meine Richtung, geradewegs auf mich zu.
Er fluchte leise vor sich hin, offensichtlich hatte sich bei einer seiner
Tragetaschen der Henkel gelöst. Er hatte alle Hände voll zu tun, dass der
Inhalt nicht auf den Boden fiel. Bei mir angekommen, stellte er seine
scheppernde Tasche auf die schmale Bank,
nicht ohne kräftig weiterzufluchen wegen seines Missgeschicks. Ich bot
ihm meine Hilfe an und meine Ahnung, dass er da Trinkbares transportierte, bestätigte sich. Er erzählte mir, dass er als
Portier und Hausmeister in einer kleinen Privatklinik arbeitet und heute Dienst
gehabt hatte. Das sei ein guter Tag gewesen, meinte er, denn viel Klinikpersonal hätte sich bei ihm bedankt und ihm Geschenke
in Form von Wein und Hochprozentigem gebracht. Das ist bei uns so Brauch, sagte
er und spendierte mir eine Flasche meiner Wahl. Gemeinsam köpften wir einen Beaujolais und rauchten Zigarillos, ebenfalls
aus dem Geschenkefundus meines neuen Freundes. Wie immer, wenn ich meinen
Alkoholpegel in den richtigen Level gebracht hatte, stellte sich Wohlbefinden
ein. Mein neuer Kumpel bekam dann doch leichte Gewissensbisse wegen seiner
Frau, die er schon fast vergessen hatte. Seine Einladung, mit ihm in sein
nahegelegenes Domizil mitzukommen, habe ich dann doch abgelehnt.
Die Anonymität der Stadt hat auch etwas Gutes, besonders
für einen Nichtsesshaften wie mich. Solange ich halbwegs nüchtern war, achtete
ich penibel darauf, dass niemand meine Not an meinem Äußeren ablesen konnte.
Jedenfalls glaubte ich, dass es so sei. Ich glaubte an mich und redete mir ein,
dass, solange ich mich selbst als einen guten, ehrlichen Mann sah, es die
anderen auch tun müssten.
Mit diesen Gedanken im Kopf verließ ich mein Wartehäuschen
und begab mich auf die Suche nach einer geeigneten Schlafstelle. Während meiner
letzten Streifzüge durch die Stadt war mir eine Baustelle aufgefallen, die
meinen Kriterien für eine unentdeckte
Übernachtung einigermaßen entsprach. Das Erdgeschoss
eines Bürohauses wurde umgebaut zu einem Geschäftslokal. An Wochenenden und
Feiertagen war also keine größere Störung durch Hausbewohner zu befürchten. Der
Bauzaun war kein echtes Hindernis, ich konnte ihn leicht zur Seite schieben,
ohne etwas zu zerstören. Das war mir wichtig, denn ich wollte ja erstens
wiederkommen und zweitens nicht als Einbrecher gelten. Ich wollte nur meinem
geschundenen Körper etwas Ruhe gönnen und ihn vielleicht
etwas erwärmen. Zum Glück fand ich im hinteren Teil einen dunklen Raum, zwar
ohne Türen, aber immerhin nicht sofort von der Straße einsehbar. An der
Rückwand befand sich ein Heizkörper, der sogar etwas Wärme spendete. Super!
Schnell suchte ich ein paar Styroportafeln und kam in den Genuss dieses wärmedämmenden Materials. Zwei Tafeln dienten als
Unterlage und eine als Kopfstütze am gerippten Heizkörper. Mein Parka wurde zur
Decke umfunktioniert und so döste ich leise vor mich hin. Der leichte Kick vom
Beaujolais ließ mich zufrieden in die weihnachtliche Straßenbeleuchtung träumen.
Alles wird gut!
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