Montag, 22. Dezember 2014

Adventskalender 2014 - 22. Advent



Die Frage    

von Dagmar Weck                                       



Ein Samstag, ein Nachmittag breitet sich aus in einem Sommer in Bochum.

"Grüß Dich, Maja," sage ich, umarme Maja, tue es mit unberührbarer Distanz.
"Tag, schön, Dich wieder zu treffen," höre ich die Begrüßung von Maja.
Nebeneinander gehen wir vom Bochumer Bahnhof aus ins "Café Afrika".

"Schön, dass wir uns so früh treffen heute, ich habe ein Würstchen
gegessen heute Mittag", berichtet Maja, "und dazu hatte ich einen
Salat von gestern, den habe ich mir selbst gemacht, Hannah."

"Oh, im Café ist es voll, laß uns draußen sitzen, Maja."
Wir sind angekommen.

"Der Salat war echt gut, einkaufen mußte ich heute unbedingt, von 13.32Uhr
bis 16.07Uhr," Maja setzt sich.
"Die Leute hier draußen sind fast alle in unserem Alter, Maja, im Mittelalter."
Maja guckt sich die Umgebung an, nicht die Cafémenschen.

"Ich will in den Herbstferien nach Südafrika fliegen, habe ich Dir das schon ge-
sagt, Hannah?"
"Sieh, Maja, die Frauen, die hier draußen sitzen, sind alle gut gekleidet, hmm?"
auf Südafrika reagiere ich absichtlich nicht.
"Guck mal, ich habe mir diesen Blazer neu gekauft", Maja zupft an ihm , "habe ihn
mir schicken lassen, war teuer."
"Schön, wirklich schön", reagiere ich kurz auf ihren Konsum.
Wir bestellen bei der freundlichen Bedienung etwas, dieses Café hat Niveau.
Maja, so hoffe ich, stellt mir nicht die Frage, vor der ich Angst habe.

Blazer und Südafrika überschreiten Grenzen, auch meine, das ist es.
"Bezahlt habe ich den Blazer noch nicht, erst mal habe ich Zahlpause, so was
macht die Versandfirma, das finde ich prima, das mit dem späteren Bezahlen
mache ich öfter, den Salat esse ich morgen noch, dazu ein Würstchen,
also Südafrika, habe ich Dir das schon erzählt?“ Maja lacht leise.



In meiner Magengegend nehme ich eine Nervosität war, einen Ärger, aus dem sich
ein Gefühl von Enttäuschung löst.
"Ja, hast Du, Bodo-Verkäufer sind unterwegs, bei dem schönen Wetter lohnt es
sich sicher für sie, meinst Du das auch, Maja?" Ich weise mit dem Kopf auf einen
Bodo-Verkäufer hin.

Maja sieht in die Richtung des Bodo-Verkäufers, den ich meine.
 "Südafrika, ich wollte immer schon mal dorthin", Maja trinkt von ihrem Milchcafé,
"die Reise, die ich mir ausgesucht habe, kostet so einiges," Maja stellt die
große Obertasse weit weg von der zugehörigen Untertasse, "im nächsten Jahr
spare ich mal, habe ich schon oft versucht, Hannah, es geht nicht."

"Heute will ich mal früher zu Hause sein," ich fasse an Majas Blazerarm, "früher
als sonst, wenn wir uns treffen."
"Wie meinst Du das?" fragt Maja, "Du sitzt doch hier gut."
Maja möge mir die erwartete Frage nicht stellen, meine Antwort erfordert ein Ja oder ein Nein.

"In den Herbstferien bleibe ich in Bochum", erkläre ich meine NichtReisePläne,
sehe auf den Tisch und trinke einen Sekt, den ich mir bestellt habe.

"Eigentlich kann ich mir den Urlaub nicht leisten, die große Reise", Maja nähert
sich ihrer Wirklichkeit, "ich muß sparen, konsequent."

"Wir haben Glück, Maja, wir haben ein gutes Einkommen und eine Wohnung, wir
müssen keine Bodos verkaufen."
Der Bodo-Verkäufer geht langsam fort von uns.

"Laß uns ins Bermuda-Dreieck gehen", so plane ich den weiteren Abend.
Ich werde Maja zum Essen einladen, dann möchte ich sie nicht mehr wieder
treffen.
"Vierzehn Tage Südafrika, das wird schön, ich plane Taschengeld ein, so 200
Euro brauche ich für zwei Wochen, sicher so viel, Hannah, das reicht aber,
Halbpension ist in der Reise schon drin."

Sie wird mir die Frage stellen, nein werde ich sagen, meine Einladung zum Essen
soll Maja besänftigen.

"Heute mußte ich noch einkaufen, von 13.42 Uhr bis 15.47 Uhr war ich im
Geschäft, morgen esse ich noch ein Würstchen, Salat habe ich noch",
Maja sieht sich die nähere Umgebung unseres Tischchens an, mich
sieht sie nicht.


Wir stehen auf, Kaffee und Sekt habe ich bezahlt, Maja will es zuerst nicht, dann
will sie es doch. Maja hat ihre Zeitrechnung nicht mehr im Griff.


Wir gehen.
"Du kommst mit 200 Euro Taschengeld nicht aus, die reichen nicht für zwei
Wochen Südafrika", mische ich mich ein.
"Ich fahre so gern weg, zweimal im Jahr muß ich einfach verreisen, mindestens,
zu Hause halte ich es nicht aus, Südafrika, ein Traum von einer Reise", Maja
redet heute sehr viel.


Unser letztes Treffen findet heute statt, Erleichterung fühle ich, Maja und ich
können einander nicht nahekommen.
"Hier ist was los, viele Leute sind heute unterwegs im Bermuda-Dreieck, Maja."

Unser letztes Ziel in unserer Beziehung ist also erreicht, die Kneipen, von mir geliebte Orte.
"Hannah, Dich wollte ich mal was fragen," Maja geht langsamer.

Unsichtbar fühle ich das Messer, das in meinen Körper schneidet.
Nein, so wird meine Antwort lauten, jetzt kann ich nein sagen auf so eine Frage,
vor einiger Zeit noch hätte ich es nicht gekonnt.

"Ich habe nur 320 Euro im Monat zum Leben", Maja hat jetzt eine blasse Stimmfarbe.
"Wie?", sage ich etwas zu laut.
"Zum Leben, für Lebensmittel, Hannah", ein wenig zu viel Entrüstung liegt gerade
in  Majas Gesicht.
"Eigentlich kann ich mir die Reise nicht leisten", Maja lacht manieristisch in den
Bochumer Sommer.

"Maja, wie viele dieser Leute hier mögen einsam sein? Manchmal bin ich auch einsam."
Ich schäme mich meiner Einsamkeit, bin aber etwas befreit, weil ich das nun zu-
geben kann, dieses EinsamGefühl.

Majas Frage wird eine Bitte sein.
"Bei einem anderen Versandhaus habe ich auch noch Schulden, fällt mir gerade
ein", Maja sieht mich lange an.


Meine innerseelischen Pläne gebe ich Maja später bekannt.
"Komm, laß uns hier essen gehen", ich gehe voran, ein gemütliches Lokal, eine
Entscheidung treffen wir gleich, die des Essens und die des Weines.

Noch einige Zeit werden wir einen guten Abend haben.
"Die Schuldnerberatung hat lange Wartezeiten, da gehe ich nicht hin, das Rezept
meines Salates gebe ich Dir mal, Hannah, Du mußt ihn unbedingt essen."
"Nein, ich habe keine Lust, mir Salat zu machen", sage ich bestimmt.

"Ja, ich möchte bitte eine Bodo", sage ich dem an unserem Tisch stehenden Bodo-Verkäufer.
Er gibt mir die Bodo, ich bezahle.
"Darf ich Sie zum Essen einladen?" frage ich ihn.
Majas Frage wurde von ihr noch nicht gestellt, sie betrifft nicht den Bodo-Verkäufer.
"Ja, gerne, danke", antwortet mir der Bodo-Mann.
"Bitte, nehmen Sie Platz", ich sehe ihn an mit Entgegenkommen.
"Danke", sagt er höflich und setzt sich erst jetzt.
Maja schaut mich an, sehr überrascht sehe ich sie.

"Wie geht es Ihnen, ich bin Hannah, das ist Maja", ich versuche, ihm ein wenig
nahezukommen, "schauen Sie in die Weinkarte, wenn Sie Wein mögen."
"Ich heiße Sören", stellt sich mein Gast vor, "geht mir ganz gut."

"Läuft der Verkauf heute gut?" frage ich meinen Bodo-Menschen mit seinem
Schicksal, bin unsicher, ob ihn diese Frage stört oder gar verletzt.
"Ja, läuft alles ganz gut", sagt Sören.
Wir schweigen miteinander, drei unsagbare Menschen, Sören erzählt von sich
aus nichts weiter.
Ihm möchte ich etwas näherkommen, aus seinem Leben möchte ich etwas
erfahren, er berührt mich, insbesondere möchte ich wissen, was ihn aus
der Bahn geworfen hat
Die einzige Nähe, die ich heute Abend bekommen könnte, könnte von der
Begegnung mir diesem Mann ausgehen.

"Heute sind viele Leute unterwegs hier im Bermuda-Dreieck", sage ich.

Inzwischen haben wir unser Essen bekommen, den Wein , der die richtige
Temperatur hat, exzellent, "zum Wohle", sagen wir drei Menschen an
unserem gemeinsamen Tisch.

Vorübergehend ist diese Tisch-Zeit, es tut mir weh.
"Es ist heute sehr voll, lange verkaufe ich nicht mehr", sagt Sören, den ich
auf Mitte Dreißig schätze, nach seinem Alter wage ich nicht zu fragen.
Sören bleibt ziemlich ernst am Tisch.

Maja schaut mich an, ich überlege, was ich sagen könnte, damit Sören mehr
von sich erzählt.
Wir bestellen noch mehr Wein.
"Der ist gut, der Wein", sage ich.
"Hmm", sagt Sören, Maja sagt gerade nichts.
"War bei mir im Leben vieles auch nicht einfach", sage ich, bin unsicher,
ob ich das hätte sagen dürfen.

"Ist oft so", Sören hat sein Essen beendet, "ich muß mal gehen, vielen Dank."
Sören ist sehr höflich, er zeigt eine gewisse Einfühlsamkeit, die ich mir von Maja wünsche.
"Alles Gute, Sören, war schön, Dich zu treffen", nehme ich Abschied.
Sören geht mit seinen restlichen Zeitungen fort, sagt noch: "Alles Gute!"

Er kann davon ausgehen, dass es Maja und mir gut geht, die Tür fällt hinter ihm
zu, mit seinen restlichen Zeitungen ist er gegangen, vielleicht sind sie
sein ganzer Besitz.
"Ich wollte mal erfahren, was in seinem Leben passiert ist", wende ich mich
Maja zu.
"Er hat ja nichts erzählt", antwortet mir Maja, " morgen esse ich vielleicht doch
anderthalb Würstchen."
"Ich hoffe, er hat eine Unterkunft", setze ich unser Gepräch fort.
"Maja, auch mir hätte es passieren können, dass ich mich selbst aus der Bahn
geworfen hätte, ich war drauf und dran, meine Berufsausbildung hinzuwerfen,
es war die Liebe, die ich von jemandem wollte, er hat sie mir nicht gegeben,
ich war die Versagerin, damals, so dachte ich, auf einem Schiff wollte ich damals
vielleicht anheuern, meine Referendarzeit nicht mehr weitermachen."
"Morgen esse ich vielleicht anderthalb Würstchen, Hannah", Maja sieht ihr
Weinglas an, "mit meinem Salat. Sören, den Namen finde ich unmöglich."

Wir bestellen noch Wein, diesmal wähle ich einen Rosé.

Maja hat auch eine Referendarzeit hinter sich und ist eine Beamtin auf Lebenszeit.
"Zum Wohle", sage ich zu ihr, die mir darauf nicht antwortet.

Ein Gefühl, bitte, nur ein einziges für das, was sich ereignet hat, gerade, für
das, was ich Maja gerade erzählt habe, erwarte, verlange ich.
Ein Abschied von Maja steht unmittelbar bevor, der einzige Abschied, den ich von
ihr nehmen werde, es gibt kein nächstes Treffen mehr.
"Ich wollte Dich fragen, Hannah", Maja trinkt genüßlich ihren Wein, " kannst Du mir
Geld leihen, es sind nur eintausend Euro, ich muß einiges bezahlen, was ich jetzt
nicht kann. Ratenzahlungen von zwei Versandhäusern und meine Raten für
meinen letzten Urlaub nach Marokko muß ich auch noch bezahlen."
Sie trinkt von ihrem Wein, zu dem sie eingeladen ist.

"Zusammen sind es neunhundert Euro, die mir gerade fehlen, gib mir bitte ein-
tausendunddreihundert Euro, dann habe ich noch etwas Taschengeld."


Ich trinke von meinem Rosé, Maja sieht zu mir, und doch an mir vorbei hinein ins Lokal.
Erkenntnisse über ein Gefühl der Enttäuschung haben mich erreicht.
"Das Geld brauche ich dringend in den nächsten vier Tagen", Maja ist unberührt
von Gefühlen.
Ich sehe sie an, ein wenig unsicher fühle ich mich, "nein", sage ich deutlich
und ein wenig hart.
"Ich dachte, Du hast doch Geld, Hannah."
"Du verdienst so viel wie ich, Maja, nein, ich gebe Dir kein Geld."
Erklärungen gebe ich nicht ab, schuldig fühle ich mich nur verschwindend wenig.
"Ich zahle es Dir zurück, in Raten, so über drei Jahre hinweg", Maja genießt ihren Wein.

"Du kannst mir das Geld doch gar nicht zurückzahlen bei Deinen vielen Schulden, Maja", mein Rosé ist sehr gut.

"Nein, Maja, ich finanziere Dir nicht ein Leben, das Du Dir nicht leisten kannst, " vollziehe ich diesen Abend.
Ich zahle, so hatte ich es geplant, bin jetzt frei.
Wir umarmen uns nicht mehr beim Abschied, sagen nur: "Wiedersehen", eine
Täuschung.

Drei Menschen entläßt diese Nacht.
Sören, einen abgestürzten, armen Gast der Dunkelheit, Sören, ich hoffe, er hat eine Bleibe.
Sören wird entlassen von dieser Bochumer Nacht mit einer armseligen Zukunft.

Seinerzeit hatte ich doch noch meine Berufsausbildung beendet.

Maja entläßt diese Nacht, eine einsame und planlose Frau, die ihre Bindung zu ihrem
guten Gehalt manisch zu verlieren begonnen hat und die depressiv geworden ist.
Mich, Hannah, entläßt diese  Nacht, eine einsame Frau, die eine solche Nacht wieder
suchen wird.

Sie wird sie finden, möglich ist das in Bochum.

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