Zwei Söhne
von Dagmar Weck
Camilles und Matts Erwartung füllt ihr Häuschen und die Zeit
der Weihnacht. „Er kommt heute, Matt“ Camille zupft am Ärmel
von Matts ausgebeultem roten Pulli, „zieh dich um!“
Matt schlurft durch das Wohnzimmer zum Weihnachtsbaum, prüft
die gleichmäßige Verteilung der matt-goldenen
Weihnachtskugeln, schüttelt
von einigen
künstlichen Zweigen Staub, der
lässt sich auf den Weihnachtspäckchen unter dem Baum nieder
Vier Jahre steht der Kunstbaum in unveränderter Position da,
in seinem unveränderbaren Christbaumschmuck.
„Deinen besten Anzug habe ich dir aufs Bett gelegt, wir
wollen Leon festlich
empfangen, mein Lieber“.
Matt verlässt das Zimmer, er ist Mitte Fünfzig und geht
gebeugt.
Er weiß wenig über seine Nachbarn, die direkt nebenan
wohnen, er weiß
nichts mehr von seinen alten Freunden. Er fragte sie nicht
mehr, was sie tun, was sie freut und bedrückt, so kamen sie nicht wieder.
Von seinem Sohn Leon weiß er etwas, Leon ging ohne Abschied fort am
Heiligen Abend vor vier Jahren.
Einmal im Jahr sagte er seinen Eltern am Telefon, er komme wieder, am
Heiligen Abend werde er da sein, gewiss.
Matt steht vor seiner Haustür, sein bester Anzug kleidet ihn
gut. Er rückt
den draußen angebrachten roten Weihnachtstern zurecht.
„Hallo, Matt, was tust du da?“ Thea, seine nächste
Nachbarin, sieht zu ihm
herüber. Eine Sehnsucht ergreift ihn, sein Herz klopft
heftig, wie lange nicht mehr, er lächelt und winkt einmal zaghaft Thea zu.
Er geht wieder hinein,
lässt die Haustür geöffnet.
Für Leon.
Matt geht in das Herz
des Hauses zurück, ins Wohnzimmer.
Camille hat den Tisch gedeckt, um genau 18.15 Uhr beginnt in jedem Jahr das Festmahl, keine Minute früher,
keine Minute später. Dem Heilligen Abend gebührt die Ehre der
Pünktlichkeit.
Wein gibt es reichlich, köstlich duftet eine große Gans.
Nachdem Matt und Camille zwei Flaschen Wein geleert und sich
ihre Liebe zu
Leon und für einander erklärt haben, klopfen zwei Menschen
an ihre offen stehende Zimmertür. Thea und Leon treten ein.
So viel Besuch löst Angst in ihnen aus.
„Ich bin da, pünktlich, wie versprochen.“
Camille drückt ihren Sohn fest an sich. Matt begreift und
lässt einer Träne
freien Lauf, er fasst sie vorsichtig mit einem Finger an,
fast ungläubig, breitet seine Arme
aus, und geht auf Leon zu.
„Habt ihr meinen Ruedi gesehen“, Thea steht zitternd da.,
„heute morgen ist er aus dem Haus gegangen und noch nicht wiedergekommen.“
Matt und Camille sehen sich an. „Er kommt wieder, liebe
Thea, nur etwas später“, Camille weiß viel.
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