Allen Freunden und Lesern des Blogs wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest!
Reinhard Mermi
(Blog-Redaktion)
EIN CHRISTKIND ODER DAS WECHSELBAD DER GEFÜHLE
Wolfgang Mayer König
Komm nur herein! Aber das Kind schläft. Da kannst du einmal
sehen, wie sich das Aufwachen bei ihm abspielt. Tatsächlich, der Kleine klappt
die Lider auf und seine großen, die Umwelt immer neu entdeckenden Augen kommen
zum Vorschein. Immer intensiver leuchten sie. Aus dem anfänglich hilflosen,
fast ängstlich fragenden Schauen, wird – wie das Einbrechen der Sonne in die
beruhigte Welt – ein Lächeln und nach und nach – ein alles einnehmendes Lachen.
Das zierlich vorspringende Stupsnäschen und die unmerklich geöffneten Lippen
eines zart geformten Mundes ergeben in einem solch rundlichen Babygesicht ein
Unterpfand für erwachende Heiterkeit, welche mit so viel Vertrauen ausgestattet
ist, wie es nur von einem Kind ausgehen kann. Seine Augen wenden sich einmal
zur Mutter, dann zum Vater, schon aus dieser Schaukelbewegung des Blickes
offensichtlich Spaß beziehend. Während er wie beiläufig Gewohnheit und
Überraschung nebeneinander unterbringt, verbleibt für den Kleinen noch Zeit,
lallend seine eigenen Beine und Füße zu begrüßen, an den Socken zu zupfen, um
erst dann die kleine Faust zum zahnenden Mund zu führen. „Es ist immer dasselbe
Ritual“, bemerkt die Mutter liebevoll, „er begrüßt seine Hände und Füße, wenn
er aufwacht. Und er tut so, als ob er mit ihnen reden würde.“
Jedes Mal wenn sich der Vater, ausgestattet mit seinem
Besuchsrecht, der Wohnung des Kindes nähert, empfindet er voll Freude diese
Aufregung, die nicht zuletzt aus der neugierigen Erwartung zu erklären sein
mag, wie sich wohl das Kind inzwischen entwickelt habe und wie der Besuch von
der Mutter aufgenommen werde, die für ihn seit jeher eine Einheit mit dem Kind
darstellt. Alles, was mehr ist als neutral, denkt er bei sich, ist schon ein
Fortschritt. Wenigstens eine Milderung entbehrter Gemeinsamkeit. Er empfindet
tiefe Dankbarkeit für all das, was die Mutter auf sich genommen hat. Und es war
sehr viel, auf das sie verzichtete, als sie bereit war, einem Kind, diesem
Kind, das Leben zu schenken und sich ihm zu widmen. Wie sehr hatte er sich
gewünscht, auch die Mühen, die mit diesem täglichen Glück verbunden sind,
gemeinsam mit ihr zu tragen, mit ihr zu teilen. Sie lässt es nicht zu. Es ist
ihm bewusst, welche Rolle ihm zugemessen wird, er sieht klar, was ihm
verbleibt. Auf dieses Kind bezogen sein zu dürfen, empfindet er als besondere Würde. Wie freut er sich über seine
Verantwortung - immer - aber natürlich auch jetzt, wo er knapp davor steht, das
Kind wieder sehen und wahrscheinlich in die Arme nehmen zu dürfen. Ja, es ist
ihm geradezu feierlich zumute, vielleicht weil er nur allzu gut weiß, wie sehr
diese Zeit etwas besonders Kostbares für ihn ist.
Nicht nur die Zeit, die bei jedem heranwachsenden Kleinkind in Windeseile
abläuft und die man gar nicht besser nützen könnte, als sie gemeinsam zu
erleben, was ihm jedoch als nicht erziehungsberechtigtem Vater verwehrt ist.
Also von der Zeit zu schweigen, die man nützen könnte, um sich unbegrenzt
aufeinander einzustellen. Sondern auch
die bemessene Zeit, die verbleibt, wenn sie auch nur wenige Stunden währt und
unerbittlich mit sich bringt, dass jedesmal wieder, wenn sich Vater und Sohn
spürbar aneinander gewöhnt haben, der Vater zu gehen hat und das Kind
zurückbleibt. Jedesmal, wenn die Augen und Arme beider Zeichen geben, einander
nahe sein zu wollen, ob auf dem Arm ruhend oder Hand in Hand im Spiel die
kleine Welt entdeckend, ist die Zeit abgelaufen und wird der Abgang des Vaters
von großen fragenden Augen des Kindes begleitet.
Oft erstreckt sich der Besuch auf die Dauer einer Ausfahrt
mit dem Kinderwagen. Eine Windel wird mit Klammern vor das Dach des
Kinderwagens geheftet, um die Augen des Kindes vor der Sonne zu schützen. An
einer anderen Klammer hängt ein grünes Kettchen mit einer Plastikblume.
Wenn das Kind im Zustand der Umklammerung dieses Kettchens
einschläft, hält seine kleine Hand den ganzen Schlaf hindurch das Kettchen fest
umschlossen und macht alle Erschütterungen mit, welche die Unebenheit der
Straße verursacht. Immer in der selben verkehrsberuhigten, sonnigen Straße auf
und ab
Vorerst sitzt der Kleine, die Fahrt interessiert verfolgend,
in seinem Gefährt, um vom intensiven Anschauen des Vaters, der ihm zuredend
vorschlägt, ein bisschen zu schlafen, mit immer mehr geschlossenen Lidern in
den Schlaf überzuwechseln. Keine Erschütterung, kein Hundegebell kann ihn
diesem Schlaf entreißen, am ehesten noch der Stillstand des Kinderwagens. Das
darf nicht sein, es muss immer alles in Bewegung bleiben.
Irgendwann im Zuge dieses außergewöhnlich dreisamen
Zusammenseins setzt ein leises Quengeln ein und es gelingt meist mühelos, durch leichtes Schaukeln des
Kinderwagens noch während der Fahrt zu erreichen, dass der Schlaf des Kindes
fortgesetzt wird. Dann biegt die kleine Einheit, die man, wenn man es nicht
besser wüsste, natürlich als Familie
wahrnehmen würde, um die Gassenecke, in Richtung des Wohnhauses, wo der Vater
mit dem Kinderwagen und dem noch immer schlafenden Kind, vor der Haustüre
anhält und beim Kinderwagen verharrt, als ob er alle Zeit dieser Welt habe und
dieser Besuch eigentlich nicht zu Ende gehe. Wie weh tut es ihm, wenn zu Beginn
des Besuchs die Mutter zum Kind gewandt bemerkt: „Schau, du hast Besuch!“ Kann
ein Vater Besuch sein? So steht er neben dem Kinderwagen, in dem das Kind
schläft, er küsst die Hand der Mutter; „Ich glaube, du willst, dass ich jetzt
gehe.“ Schon bei der Haustüre kehrt der Vater um: „Lass es mich nocheinmal
ansehen!“ Er beugt sich über den Kinderwagen und sieht auch im Dunkel des
Hausflurs alles. Das zur Seite gewandte Köpfchen, die zarten Augenwimpern, und
hört den leisen Atemzug des Kindes. „Jetzt kann ich wirklich gehen.“ Und
während der Vater, nunmehr alleine, wieder in die Gasse einbiegt, wo er auch an
Tagen, wo es ihm nicht gestattet war, das Kind zu besuchen, sehnsüchtig und
verloren das Haus umkreiste, bricht auch schon dieser unermessliche Schmerz der
Trennung, des Vermissens, der immer wieder unterbrochenen Vater-Kind-Beziehung
über ihn herein. Und es ist jedes Mal so. Kaum hat man sich aneinander gewöhnt,
heißt es auseinander gehen. Kann das dem Kindeswohl dienen, die Beziehungsbande
zwischen Vater und Kind so kurz bemessen zu knüpfen, um sie hernach immer
wieder unvermittelt auseinander zu reißen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen
nimmt er das Futteral aus seiner linken Brusttasche, in welchem er die Fotos
seines Kindes aufbewahrt hält. Die zu oberst liegenden sind durch die
Klarsichtfolie zu sehen. Er klappt das Etui etwas auf und stellt es in
Sichtweite zu seinem Bett auf. Das linke Bild zeigt den Ausdruck dieser so
beschützenswerten Hilflosigkeit, das rechte jenes verschwenderisch souveräne
Lächeln seines Sohnes. Er hat seit
langem kein Bedürfnis mehr, den Fernseher einzuschalten. Er
geht früh zu Bett und stellt sich täglich geradezu darauf ein, in Ruhe den Tag
im Anschauen des Kindes ausklingen zu lassen. Wenigstens das, wenn er schon
nicht bei ihm sein kann. Und jeden Tag dieselbe Frage, die er sich stellt.
Nicht etwa diejenige, warum er nicht beim Kind und das Kind nicht bei ihm sein kann,
auch nicht diejenige, warum sein heiß ersehnter Wunsch nach einer intakten
Familie nicht in Erfüllung gegangen ist. Sondern nur die eine, die er sich
jedes Mal schon im gleichen Atemzug der Fragestellung auch schon selbst
beantwortet: Nein, ich kann nichts mehr
verlangen, weil mir ohnehin schon das Größte geschenkt wurde, was einem
Menschen gegeben werden kann: Ein gesundes Kind.
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