Mittwoch, 24. Dezember 2014

Adventskalender 2014 - "Heiligabend"





Allen Freunden und Lesern des Blogs wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest!

Reinhard Mermi
(Blog-Redaktion)

 

EIN CHRISTKIND ODER DAS WECHSELBAD DER GEFÜHLE

Wolfgang Mayer König


Komm nur herein! Aber das Kind schläft. Da kannst du einmal sehen, wie sich das Aufwachen bei ihm abspielt. Tatsächlich, der Kleine klappt die Lider auf und seine großen, die Umwelt immer neu entdeckenden Augen kommen zum Vorschein. Immer intensiver leuchten sie. Aus dem anfänglich hilflosen, fast ängstlich fragenden Schauen, wird – wie das Einbrechen der Sonne in die beruhigte Welt – ein Lächeln und nach und nach – ein alles einnehmendes Lachen. Das zierlich vorspringende Stupsnäschen und die unmerklich geöffneten Lippen eines zart geformten Mundes ergeben in einem solch rundlichen Babygesicht ein Unterpfand für erwachende Heiterkeit, welche mit so viel Vertrauen ausgestattet ist, wie es nur von einem Kind ausgehen kann. Seine Augen wenden sich einmal zur Mutter, dann zum Vater, schon aus dieser Schaukelbewegung des Blickes offensichtlich Spaß beziehend. Während er wie beiläufig Gewohnheit und Überraschung nebeneinander unterbringt, verbleibt für den Kleinen noch Zeit, lallend seine eigenen Beine und Füße zu begrüßen, an den Socken zu zupfen, um erst dann die kleine Faust zum zahnenden Mund zu führen. „Es ist immer dasselbe Ritual“, bemerkt die Mutter liebevoll, „er begrüßt seine Hände und Füße, wenn er aufwacht. Und er tut so, als ob er mit ihnen reden würde.“
Jedes Mal wenn sich der Vater, ausgestattet mit seinem Besuchsrecht, der Wohnung des Kindes nähert, empfindet er voll Freude diese Aufregung, die nicht zuletzt aus der neugierigen Erwartung zu erklären sein mag, wie sich wohl das Kind inzwischen entwickelt habe und wie der Besuch von der Mutter aufgenommen werde, die für ihn seit jeher eine Einheit mit dem Kind darstellt. Alles, was mehr ist als neutral, denkt er bei sich, ist schon ein Fortschritt. Wenigstens eine Milderung entbehrter Gemeinsamkeit. Er empfindet tiefe Dankbarkeit für all das, was die Mutter auf sich genommen hat. Und es war sehr viel, auf das sie verzichtete, als sie bereit war, einem Kind, diesem Kind, das Leben zu schenken und sich ihm zu widmen. Wie sehr hatte er sich gewünscht, auch die Mühen, die mit diesem täglichen Glück verbunden sind, gemeinsam mit ihr zu tragen, mit ihr zu teilen. Sie lässt es nicht zu. Es ist ihm bewusst, welche Rolle ihm zugemessen wird, er sieht klar, was ihm verbleibt. Auf dieses Kind bezogen sein zu dürfen, empfindet er als  besondere Würde. Wie freut er sich über seine Verantwortung - immer - aber natürlich auch jetzt, wo er knapp davor steht, das Kind wieder sehen und wahrscheinlich in die Arme nehmen zu dürfen. Ja, es ist ihm geradezu feierlich zumute, vielleicht weil er nur allzu gut weiß, wie sehr diese Zeit etwas besonders Kostbares für ihn ist.
Nicht nur die Zeit, die bei jedem  heranwachsenden Kleinkind in Windeseile abläuft und die man gar nicht besser nützen könnte, als sie gemeinsam zu erleben, was ihm jedoch als nicht erziehungsberechtigtem Vater verwehrt ist. Also von der Zeit zu schweigen, die man nützen könnte, um sich unbegrenzt aufeinander  einzustellen. Sondern auch die bemessene Zeit, die verbleibt, wenn sie auch nur wenige Stunden währt und unerbittlich mit sich bringt, dass jedesmal wieder, wenn sich Vater und Sohn spürbar aneinander gewöhnt haben, der Vater zu gehen hat und das Kind zurückbleibt. Jedesmal, wenn die Augen und Arme beider Zeichen geben, einander nahe sein zu wollen, ob auf dem Arm ruhend oder Hand in Hand im Spiel die kleine Welt entdeckend, ist die Zeit abgelaufen und wird der Abgang des Vaters von großen fragenden Augen des Kindes begleitet. 
Oft erstreckt sich der Besuch auf die Dauer einer Ausfahrt mit dem Kinderwagen. Eine Windel wird mit Klammern vor das Dach des Kinderwagens geheftet, um die Augen des Kindes vor der Sonne zu schützen. An einer anderen Klammer hängt ein grünes Kettchen mit einer Plastikblume.
Wenn das Kind im Zustand der Umklammerung dieses Kettchens einschläft, hält seine kleine Hand den ganzen Schlaf hindurch das Kettchen fest umschlossen und macht alle Erschütterungen mit, welche die Unebenheit der Straße verursacht. Immer in der selben verkehrsberuhigten, sonnigen Straße auf und ab
Vorerst sitzt der Kleine, die Fahrt interessiert verfolgend, in seinem Gefährt, um vom intensiven Anschauen des Vaters, der ihm zuredend vorschlägt, ein bisschen zu schlafen, mit immer mehr geschlossenen Lidern in den Schlaf überzuwechseln. Keine Erschütterung, kein Hundegebell kann ihn diesem Schlaf entreißen, am ehesten noch der Stillstand des Kinderwagens. Das darf nicht sein, es muss immer alles in Bewegung bleiben.
Irgendwann im Zuge dieses außergewöhnlich dreisamen Zusammenseins setzt ein leises Quengeln ein und es gelingt  meist mühelos, durch leichtes Schaukeln des Kinderwagens noch während der Fahrt zu erreichen, dass der Schlaf des Kindes fortgesetzt wird. Dann biegt die kleine Einheit, die man, wenn man es nicht besser wüsste,  natürlich als Familie wahrnehmen würde, um die Gassenecke, in Richtung des Wohnhauses, wo der Vater mit dem Kinderwagen und dem noch immer schlafenden Kind, vor der Haustüre anhält und beim Kinderwagen verharrt, als ob er alle Zeit dieser Welt habe und dieser Besuch eigentlich nicht zu Ende gehe. Wie weh tut es ihm, wenn zu Beginn des Besuchs die Mutter zum Kind gewandt bemerkt: „Schau, du hast Besuch!“ Kann ein Vater Besuch sein? So steht er neben dem Kinderwagen, in dem das Kind schläft, er küsst die Hand der Mutter; „Ich glaube, du willst, dass ich jetzt gehe.“ Schon bei der Haustüre kehrt der Vater um: „Lass es mich nocheinmal ansehen!“ Er beugt sich über den Kinderwagen und sieht auch im Dunkel des Hausflurs alles. Das zur Seite gewandte Köpfchen, die zarten Augenwimpern, und hört den leisen Atemzug des Kindes. „Jetzt kann ich wirklich gehen.“ Und während der Vater, nunmehr alleine, wieder in die Gasse einbiegt, wo er auch an Tagen, wo es ihm nicht gestattet war, das Kind zu besuchen, sehnsüchtig und verloren das Haus umkreiste, bricht auch schon dieser unermessliche Schmerz der Trennung, des Vermissens, der immer wieder unterbrochenen Vater-Kind-Beziehung über ihn herein. Und es ist jedes Mal so. Kaum hat man sich aneinander gewöhnt, heißt es auseinander gehen. Kann das dem Kindeswohl dienen, die Beziehungsbande zwischen Vater und Kind so kurz bemessen zu knüpfen, um sie hernach immer wieder unvermittelt auseinander zu reißen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen nimmt er das Futteral aus seiner linken Brusttasche, in welchem er die Fotos seines Kindes aufbewahrt hält. Die zu oberst liegenden sind durch die Klarsichtfolie zu sehen. Er klappt das Etui etwas auf und stellt es in Sichtweite zu seinem Bett auf. Das linke Bild zeigt den Ausdruck dieser so beschützenswerten Hilflosigkeit, das rechte jenes verschwenderisch souveräne Lächeln seines Sohnes. Er hat seit
langem kein Bedürfnis mehr, den Fernseher einzuschalten. Er geht früh zu Bett und stellt sich täglich geradezu darauf ein, in Ruhe den Tag im Anschauen des Kindes ausklingen zu lassen. Wenigstens das, wenn er schon nicht bei ihm sein kann. Und jeden Tag dieselbe Frage, die er sich stellt. Nicht etwa diejenige, warum er nicht beim Kind und das Kind nicht bei ihm sein kann, auch nicht diejenige, warum sein heiß ersehnter Wunsch nach einer intakten Familie nicht in Erfüllung gegangen ist. Sondern nur die eine, die er sich jedes Mal schon im gleichen Atemzug der Fragestellung auch schon selbst beantwortet: Nein, ich kann  nichts mehr verlangen, weil mir ohnehin schon das Größte geschenkt wurde, was einem Menschen gegeben werden kann: Ein gesundes Kind.

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