Sonntag, 17. Mai 2015

Die Drachenflieger



Die Wiesen zwischen Garmisch und Grainau
Szenische Kurzprosa
von Reinhard Mermi

I

Lautlos zogen die Drachenflieger ihre Bahn. Ein kleines Mädchen, nicht älter als Drei, tapste der jungen Frau mit der Narbe auf der Wange hinterher. Bekleidet mit einer Jacke, um den Hals eine gelbe Kordel, an dem ein pinkfarbenes Spielzeughandy befestigt war. Nur mit Anstrengung schob die junge Frau den Kinderwagen vor sich her, dessen Räder Spuren in den vom Schmelzwasser aufgeweichten Untergrund zeichneten.

Der Blick des kleinen Mädchens mit der gelben Kordel um den Hals, an dem das pinkfarbene Spielzeughandy befestigt war, erfasste die bunten Segel vor dem Horizont, fast Punkte nur, blieb stehen, streckte seine Arme in die Höhe, als wolle es nach den Fliegern greifen. Kindliche Einfalt, die noch nichts ahnte von der Freiheit des Fliegens, der Angst und Erregung, der kleinen Weile, in der sich der Mensch den Kräften des Windes anvertraut.

„Carla, komm zu Mammi!“, rief die junge Frau mit der Narbe auf der Wange, und beugte sich zu dem Kind herab. Sie rückte dessen zerschlissene Jacke zurecht, umfing es mit ihrem Arm, um dann Wange an Wange mit ihm die Drachen am Himmel zu verfolgen, mit der freien Hand ihre Flugbahnen nachzuzeichnen. Geduldig beantwortete sie die kindlichen Fragen nach dem Woher, dem Weshalb und Warum.

II

Auf einer Bank aus zwei Holzklötzen und einem darüber gelegten Brett saß ein junges Paar, die Strahlen der Frühlingssonne genießend, die Oberkörper entblößt, angelehnt an die wärmende Wand des Heustadels aus zugeschlagenen Stämmen. Die junge Frau streichelte ihre Brüste, befühlte deren Knospen, die sich von den Liebkosungen des Fönwindes aufgerichtet hatten. Mit einem heiseren Lachen tastete sich ihre Hand am Oberkörper des jungen Mannes nach unten, um sie dann fordernd in seine Hose zu schieben, seine Männlichkeit zu umfassen.

Ein Schatten zog über die Beiden hinweg, so wie sich die Sonne für die Erdmaus verfinstert, wenn in ihren letzten Sekunden der Falke auf sie herabstößt. Und die junge Frau, in den Armen ihres Liebhabers liegend, blickte im Moment des Höhepunkts hinauf zu dem einsamen Drachenflieger über ihnen. Der Gedanke aber, dass er sie bei ihrem Treiben aus den Lüften herab beobachten konnte, verschaffte ihr weiteren Lustgewinn.

III

„Ich lasse mich feuerbestatten.“, sprach die Witwe zu der anderen, als sie gerade an der jungen Frau mit der Narbe auf der Wange vorübergingen, wortlos, vergeblich den Gruß der Jüngeren erheischend, das kleine Mädchen mit der gelben Kordel um den Hals, an dem das pinkfarbene Spielzeughandy befestigt war, keines Blickes würdigten. Die beiden alten Frauen, Freundinnen und Feinde zugleich, die fülligen Leiber unter den schwarzen Persianermänteln verborgen, jede am Arm die Handtasche aus Reptilienleder, gingen eilig des Wegs zwischen Mittagstisch und Kaffeekränzchen - beachteten die Drachenflieger am Himmel nicht. Und die junge Frau mit der Narbe auf der Wange blieb stehen, schaute sich neidvoll nach den Witwen um, die aus dem Grabe ernährt, ein vermeintlich leichtes Los hatten.

IV

„Eine Markfünfzig, bittschön!“, sagte der Parkwächter an der Einfahrt zum Parkplatz der Seilbahntalstation zum PKW-Fahrer. Und nachdem er kassiert hatte, setzte er sich wieder auf den grünen Brauereistuhl, neben sich eine Flasche Bier. Er war ein Gnom mit Wasserkopf, das Ergebnis der Inzucht im Alpental – blöd gesoffen.


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