Sonntag, 31. Mai 2015

Die Einladung



von Ferdinand Planegger

„Post für Dich mein Schatz, richtige Post, ein echter Brief“, ruf ich meiner Frau durch die halbgeöffnete Küchentür zu, als ich vom täglichen Briefkastenleeren nach dem Nachdenkspaziergang zurück komme.
„Was? Post für mich? Von wem? fragt mich Regina zwischen zischenden Dampfgeräuschen und metallischen Klappern von hastig zur Seite geschobenen Küchenutensilien. Sie ist wieder einmal in ihrem Element. Mich zu bekochen ist ihre große Leidenschaft.  Beim Ausziehen meiner Schuhe wird deutlich, wo und wie sich ihre Kochkunst niederschlägt. In gebückter Haltung, den Hintern an der Wand, des Gleichgewichts wegen, mit einer Hand die Laufschuhe von den Füßen zerrend, erkenne ich den Absender.
„Ein Brief von unserer Bank“, presse ich aus mir heraus.
„Mach ihn bitte auf und lies vor. Ich kann nicht, ich habe fettige Hände.“
Der Brief fühlt sich edel an. Ich ziehe einen Folder aus feinstem Papier mit Reliefprägung aus dem Kuvert und lese vor:
„Der Vorstand der Bank lädt sie herzlich zum Literatur-Talk im Donau-Forum in Linz ein. Der österreichische Schriftsteller und Bestseller-Autor Daniel Glattauer liest aus seinem neuen Buch“. Das Rahmenprogramm sieht eine Signierrunde mit dem Autor vor. Selbstverständlich steht ein Büchertisch mit allen Werken von Daniel Glattauer zur Verfügung. Wir freuen uns auf Ihr Kommen.“
„Und der Brief ist an mich gerichtet?“
„Ja, an dich. Nur an Dich!“
„Und Du? Hast Du keine Einladung bekommen?“
Ich krame den Wust an Werbeprospekten, Gratiszeitungen und sonstigen Briefkastenfüllern durch.
„Nein, da ist nichts.“
Ich verkneife meine Enttäuschung und sage nicht, was ich denke. Nämlich, dass meiner Meinung nach der Bank ein grober Fehler unterlaufen ist, denn eigentlich kann ja nur ich als Interessent für kulturelle Veranstaltungen gemeint sein.
Ich gebe zu, dass die Bank nicht wirklich wissen kann, dass ich schreibe. Aber warum dann Regina?  Ich bin doch der „Literat“ in diesem Haus. Meine Frau liest zwar meine Geschichten, korrigiert meine Texte, aber sonst ist sie Leserin, keine Schreiberin.
„Ist doch egal, Ferdinand. Du weißt ja, ich gehe gerne auf Deine Lesungen, andere interessieren mich nicht so sehr. Du gehst als meine Vertretung zu dieser Lesung. O.k?“
Was soll ich da antworten? Sie ist so angenehm pragmatisch, meine Gute. Mein anfänglicher Frust ist schon am Abklingen und ich fange an, mich für den Abend mit Daniel Glattauer einzustimmen. Als erstes besorge ich mir die hochgelobte Neuerscheinung. Seine letzten Bestseller „Gut gegen Nordwind“ und den Folgeroman „Alle sieben Wellen“ habe ich gern gelesen.
„Leichte Kost“ würden meine Kollegen und insbesondere die vortragenden Schriftsteller der Literatur-Akademie lästern.
Egal, ich mag sie trotzdem, die Glattauer´s, die Glavinic´s und so weiter.

Donau-Forum, wo ist das?
Linz ist nicht meine Stadt, ich fühle mich fremd hier. Die Erinnerungen an längst vergangene Zeiten sind negativ. Damals in den 70ern hatte ich hier Arbeit gesucht.
„Als Fliesenleger im Winter? Keine Chance“, sagte mir ein Sachbeabeiter am Arbeitsamt.
„Aber ich brauche dringend Arbeit, egal was, ich mache alles.“
Ich schämte mich, keine Arbeit zu haben. Als Fliesenleger arbeitslos zu sein, war von vornherein verdächtig.
„Gehen Sie halt stempeln und kommen Sie im Frühjahr wieder.“
„Das kann ich nicht, mir fehlen die notwendigen Beitragszeiten.“
„Also gut, ich schau mal nach“. Er blätterte in seiner Kartei, taxierte mich prüfend  und meinte etwas skeptisch:
„Im Hafen hätt ich was. Verladearbeiten. Da sind sie überqualifiziert, das wird Ihnen nicht gefallen.“
Tat es auch nicht, aber was sollte ich tun? Ich hatte keine Wahl, ich war total abgestürzt, wie man so sagt. Kein Bett, nichts zu Essen, vom Rauchen und Trinken gar nicht zu reden.

Vier Tage habe ich Asbestballen von Donauschleppern in Eisenbahnwaggons umgeladen. Händisch und mit der Sackrodel. Abends wankte ich wie besoffen in das zugeteilte Arbeiterquartier. Dass es in diesem Dreckloch stank und muffig war, spielte keine Rolle. Hauptsache ein Dach über dem Kopf und ein paar geschenkte Zigaretten von Hafenarbeitern.
Am Freitag gab es Vorschuss auf den Lohn und ich betrat zum ersten Mal die Kantine. Was für ein Festessen! Ein bis an den Rand gefülltes Teller mit würziger Gulaschsuppe, Brot dazu und Bier. Drei Halbe.
Mein Körper revoltierte. Gulaschsuppe samt Bierschaum kamen magenwendend zurück, das Klo hatte ich knapp verpasst. Der Wirt hat mich rausgeschmissen, der Vorarbeiter auch. Ich war wieder arbeitslos und zog weiter in Richtung Innenstadt. An der unteren Donaulände saß ich auf einer Bank, sah den Möwen zu und dachte an ein besseres Leben.

Jetzt, in diesem erträumten Leben, stehe ich an gleicher Stelle, nur einen Steinwurf von dieser Bank entfernt.  Nur der Blick zum Pöstlingberg ist der gleiche, die Umgebung spiegelt sich in Glasfasaden der Linzer Kulturmeile.
Es ist noch eine Stunde Zeit bis zur Lesung, einige Besucher stehen mit mir am Aschenbecher vor dem Glas-Marmor-Palast. Der Eingangsbereich ähnelt einer Aula, kleine Gruppen diskutierender Literaturliebhaber stehen vereinzelt vor dem Übergang ins Foyer des Auditoriums. Eine dauerlächelnde Hostess scannt meine Einladungskarte und mir wird in diesem Moment klar, dass diese Lesung nichts mit jenen zu tun hat, die ich in der Vergangenheit besucht habe. Das hier ist keine heimelige Bibliothek mit Sesselkreisen um den Autor, kein intimes Zusammenrücken zwischen Literaturfreunden. Meine Hoffnung, irgendwen zu treffen den ich kenne, ist vergeblich. Ich schlängle mich durch die, mit damastweißen Tischtüchern dekorierten, Stehtische an denen hunderte Menschen mit Sektflöten und Weinschwenkern smalltalken.
„Ein Glas Sekt für den Herrn?“, lispelt mir eine junge Auszubildende zu. „Haben Sie auch was Alkoholfreies?“, frage ich freundlich. Vermutlich wurde sie abkommandiert für diesen Job, sie wirkt ein wenig schüchtern und unsicher. Das macht sie zu einer Seelenverwandten, denn mir geht es auch nicht viel besser.
„Ich hole Ihnen ein Wasser“, sagte sie und suchte nach einer Möglichkeit, die vollen Sektgläser irgendwo abzustellen.
„Das ist aber nett von Ihnen. Geben Sie mir das Tablett, ich halte das solange für Sie“, sage ich im väterlichen Ton.
Die Wartezeit auf mein Mineralwasser wird durch ein fröhliches, älteres Ehepaar abgekürzt, sie halten mich für den Sekt-Servierer und räumen kurzerhand den gesamten Vorrat an Trinkbarem ab. Auch gut, jetzt habe ich wenigstens die Hände wieder frei. Janette, der Name steht auf ihrem Namenschild, ist mit meinem Getränk zurück, bedankt sich überschwänglich und wünscht mir einen angenehmen Abend.
Ich fühle mich nicht wohl in diesen Menschentrauben, irgendwann gebe ich es auf, nach bekannten Gesichtern zu suchen und schlendere weiter in Richtung Veranstaltungssaal und Bühne. Gigantisch. Das ist mein erster Eindruck. Ich bin einer der Ersten hier im Auditorium und bewege mich zum vorderen Bühnenrand. Die ersten zehn Sesselreihen sind alle reserviert. Auch für mich? Immerhin steht auf der Einladung, dass für mich, respektive für Regina, ein Platz reserviert ist. Ich will mich nicht auf irgendwelche Diskussionen einlassen und steuere den mittleren Bereich ohne Reservierung an. Die Sicht auf die Bühne ist gut, außerdem ist das gar nicht mehr so wichtig, denn die Videowall ist so riesig, dass man auch ganz hinten im Raum bestens sehen und hören kann.
Vereinzelt sitzen ein paar Sektverweigerer verloren in einem Meer von Sesselreihen. Ich zähle soweit ich sehen kann, den Rest schätze ich auf fünfzig Stühle nebeneinander vor der Bühne. Nach hinten sind es etwa dreißig Reihen.
Der kleine Lesetisch, gerademal groß genug für das Manuskript des Autors und dem obligaten Wasserglas, bildet mit  dem spartanischen Sessel eine einsame Symbiose.
Nur gedämpftes Gemurmel der Aperativschlürfer dringt in den Saal. Ich sitze bequem, fußfrei, im mittleren Besucherblock. Wer früher kommt, hat die Auswahl, wenigstens für heute stimmt das. Der Programmfolder dient meinen Händen als Beschäftigung für die rauchfreie Zeit. Es herrscht im gesamten Gebäude Rauchverbot. Es mehren sich die Argumente, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, denke ich. Meine Alkoholsucht habe ich erfolgreich bekämpft, mit dem Nikotin bin ich noch nicht so weit. Vermutlich weil das Rauchen keine sozialen Probleme bereitet. Oder doch? Mittlerweile werden Raucher immer öfter ausgegrenzt, vor die Tür verbannt, abgesondert.

Von der Video-Wall schaut das Bild von Daniel Glattauer direkt in die Sesselreihen. Ich und wahrscheinlich jeder hier im Raum, muss den Eindruck gewinnen, dass er ihm oder ihr direkt in die Augen schaut. Gut gemacht. Neben dem Bild des Schriftstellers stehen die Slogans: Bestsellerautor, vier oder noch mehr Millionen verkaufte Bücher – Trotz Superlative nicht abgehoben – Mensch wie du und ich – Geerdet.
Ich ertappe mich beim Fantasieren. Was wäre wenn? Wenn ich von da oben herunterlächeln würde, mein Buch vorgestellt würde, ich vom Moderator begrüßt und vom Publikum mit Applaus empfangen würde. Wie mich die Menschen bedrängen würden, ihnen zu erzählen, wie ich das alles geschafft habe.
Wie wäre es, wenn mein Wort mehr Gewicht kriegte, ich mir gescheite Sätze einfallen lassen müsste, um meinen Erfolg zu rechtfertigen. Ich glaube, Erfolg kann betrunken machen – glücklich betrunken oder poetisch – Trunken vor Glück. Das wäre der Rausch, den ich mir noch zugestehen würde.
Ja, ich würde was tun. Mein Anliegen sind die Leute vom Rand. Es gibt zu wenig Stimmen die gehört werden. Das zu ändern wäre eine Aufgabe.
Ich habe nicht bemerkt wie sich der Saal füllte, das Licht gedämmt wurde und der Moderator mit dem Veranstalter das Podium betreten hat. Applaus lässt die Luft vibrieren, das bringt mich zurück in die Wirklichkeit. Daniel Glattauer wird vom Direktor des Hauses angesagt und betritt die Bühne. Applaus! Kein Gejohle und Gepfeiffe, nur respektvoller Applaus.
Glattauer begrüßt fast ein bisschen verlegen das Publikum, stellt seine Geschichte vor und erklärt den Leuten, wie es dazu kam. Des Schriftstellers zweite Kunst ist das Interpretieren seines Werkes, den Wörterteppich aufzurollen und den Zuhörer mitzunehmen in seine Welt. Hier und heute ist das fraglos gelungen.
Ich stelle mich nicht in die endlose Schlange, um das Buch vom Autor signieren zu lassen. Ich gehe still und leise aus dem Auditorium. Ich will nach Hause an meinen Schreibtisch. Ich muss die Reise zu meinen Traum beginnen.
  von Ferdinand Planegger


„Post für Dich mein Schatz, richtige Post, ein echter Brief“, ruf ich meiner Frau durch die halbgeöffnete Küchentür zu, als ich vom täglichen Briefkastenleeren nach dem Nachdenkspaziergang zurück komme.
„Was? Post für mich? Von wem? fragt mich Regina zwischen zischenden Dampfgeräuschen und metallischen Klappern von hastig zur Seite geschobenen Küchenutensilien. Sie ist wieder einmal in ihrem Element. Mich zu bekochen ist ihre große Leidenschaft.  Beim Ausziehen meiner Schuhe wird deutlich, wo und wie sich ihre Kochkunst niederschlägt. In gebückter Haltung, den Hintern an der Wand, des Gleichgewichts wegen, mit einer Hand die Laufschuhe von den Füßen zerrend, erkenne ich den Absender.
„Ein Brief von unserer Bank“, presse ich aus mir heraus.
„Mach ihn bitte auf und lies vor. Ich kann nicht, ich habe fettige Hände.“
Der Brief fühlt sich edel an. Ich ziehe einen Folder aus feinstem Papier mit Reliefprägung aus dem Kuvert und lese vor:
„Der Vorstand der Bank lädt sie herzlich zum Literatur-Talk im Donau-Forum in Linz ein. Der österreichische Schriftsteller und Bestseller-Autor Daniel Glattauer liest aus seinem neuen Buch“. Das Rahmenprogramm sieht eine Signierrunde mit dem Autor vor. Selbstverständlich steht ein Büchertisch mit allen Werken von Daniel Glattauer zur Verfügung. Wir freuen uns auf Ihr Kommen.“
„Und der Brief ist an mich gerichtet?“
„Ja, an dich. Nur an Dich!“
„Und Du? Hast Du keine Einladung bekommen?“
Ich krame den Wust an Werbeprospekten, Gratiszeitungen und sonstigen Briefkastenfüllern durch.
„Nein, da ist nichts.“
Ich verkneife meine Enttäuschung und sage nicht, was ich denke. Nämlich, dass meiner Meinung nach der Bank ein grober Fehler unterlaufen ist, denn eigentlich kann ja nur ich als Interessent für kulturelle Veranstaltungen gemeint sein.
Ich gebe zu, dass die Bank nicht wirklich wissen kann, dass ich schreibe. Aber warum dann Regina?  Ich bin doch der „Literat“ in diesem Haus. Meine Frau liest zwar meine Geschichten, korrigiert meine Texte, aber sonst ist sie Leserin, keine Schreiberin.
„Ist doch egal, Ferdinand. Du weißt ja, ich gehe gerne auf Deine Lesungen, andere interessieren mich nicht so sehr. Du gehst als meine Vertretung zu dieser Lesung. O.k?“
Was soll ich da antworten? Sie ist so angenehm pragmatisch, meine Gute. Mein anfänglicher Frust ist schon am Abklingen und ich fange an, mich für den Abend mit Daniel Glattauer einzustimmen. Als erstes besorge ich mir die hochgelobte Neuerscheinung. Seine letzten Bestseller „Gut gegen Nordwind“ und den Folgeroman „Alle sieben Wellen“ habe ich gern gelesen.
„Leichte Kost“ würden meine Kollegen und insbesondere die vortragenden Schriftsteller der Literatur-Akademie lästern.
Egal, ich mag sie trotzdem, die Glattauer´s, die Glavinic´s und so weiter.

Donau-Forum, wo ist das?
Linz ist nicht meine Stadt, ich fühle mich fremd hier. Die Erinnerungen an längst vergangene Zeiten sind negativ. Damals in den 70ern hatte ich hier Arbeit gesucht.
„Als Fliesenleger im Winter? Keine Chance“, sagte mir ein Sachbeabeiter am Arbeitsamt.
„Aber ich brauche dringend Arbeit, egal was, ich mache alles.“
Ich schämte mich, keine Arbeit zu haben. Als Fliesenleger arbeitslos zu sein, war von vornherein verdächtig.
„Gehen Sie halt stempeln und kommen Sie im Frühjahr wieder.“
„Das kann ich nicht, mir fehlen die notwendigen Beitragszeiten.“
„Also gut, ich schau mal nach“. Er blätterte in seiner Kartei, taxierte mich prüfend  und meinte etwas skeptisch:
„Im Hafen hätt ich was. Verladearbeiten. Da sind sie überqualifiziert, das wird Ihnen nicht gefallen.“
Tat es auch nicht, aber was sollte ich tun? Ich hatte keine Wahl, ich war total abgestürzt, wie man so sagt. Kein Bett, nichts zu Essen, vom Rauchen und Trinken gar nicht zu reden.

Vier Tage habe ich Asbestballen von Donauschleppern in Eisenbahnwaggons umgeladen. Händisch und mit der Sackrodel. Abends wankte ich wie besoffen in das zugeteilte Arbeiterquartier. Dass es in diesem Dreckloch stank und muffig war, spielte keine Rolle. Hauptsache ein Dach über dem Kopf und ein paar geschenkte Zigaretten von Hafenarbeitern.
Am Freitag gab es Vorschuss auf den Lohn und ich betrat zum ersten Mal die Kantine. Was für ein Festessen! Ein bis an den Rand gefülltes Teller mit würziger Gulaschsuppe, Brot dazu und Bier. Drei Halbe.
Mein Körper revoltierte. Gulaschsuppe samt Bierschaum kamen magenwendend zurück, das Klo hatte ich knapp verpasst. Der Wirt hat mich rausgeschmissen, der Vorarbeiter auch. Ich war wieder arbeitslos und zog weiter in Richtung Innenstadt. An der unteren Donaulände saß ich auf einer Bank, sah den Möwen zu und dachte an ein besseres Leben.

Jetzt, in diesem erträumten Leben, stehe ich an gleicher Stelle, nur einen Steinwurf von dieser Bank entfernt.  Nur der Blick zum Pöstlingberg ist der gleiche, die Umgebung spiegelt sich in Glasfasaden der Linzer Kulturmeile.
Es ist noch eine Stunde Zeit bis zur Lesung, einige Besucher stehen mit mir am Aschenbecher vor dem Glas-Marmor-Palast. Der Eingangsbereich ähnelt einer Aula, kleine Gruppen diskutierender Literaturliebhaber stehen vereinzelt vor dem Übergang ins Foyer des Auditoriums. Eine dauerlächelnde Hostess scannt meine Einladungskarte und mir wird in diesem Moment klar, dass diese Lesung nichts mit jenen zu tun hat, die ich in der Vergangenheit besucht habe. Das hier ist keine heimelige Bibliothek mit Sesselkreisen um den Autor, kein intimes Zusammenrücken zwischen Literaturfreunden. Meine Hoffnung, irgendwen zu treffen den ich kenne, ist vergeblich. Ich schlängle mich durch die, mit damastweißen Tischtüchern dekorierten, Stehtische an denen hunderte Menschen mit Sektflöten und Weinschwenkern smalltalken.
„Ein Glas Sekt für den Herrn?“, lispelt mir eine junge Auszubildende zu. „Haben Sie auch was Alkoholfreies?“, frage ich freundlich. Vermutlich wurde sie abkommandiert für diesen Job, sie wirkt ein wenig schüchtern und unsicher. Das macht sie zu einer Seelenverwandten, denn mir geht es auch nicht viel besser.
„Ich hole Ihnen ein Wasser“, sagte sie und suchte nach einer Möglichkeit, die vollen Sektgläser irgendwo abzustellen.
„Das ist aber nett von Ihnen. Geben Sie mir das Tablett, ich halte das solange für Sie“, sage ich im väterlichen Ton.
Die Wartezeit auf mein Mineralwasser wird durch ein fröhliches, älteres Ehepaar abgekürzt, sie halten mich für den Sekt-Servierer und räumen kurzerhand den gesamten Vorrat an Trinkbarem ab. Auch gut, jetzt habe ich wenigstens die Hände wieder frei. Janette, der Name steht auf ihrem Namenschild, ist mit meinem Getränk zurück, bedankt sich überschwänglich und wünscht mir einen angenehmen Abend.
Ich fühle mich nicht wohl in diesen Menschentrauben, irgendwann gebe ich es auf, nach bekannten Gesichtern zu suchen und schlendere weiter in Richtung Veranstaltungssaal und Bühne. Gigantisch. Das ist mein erster Eindruck. Ich bin einer der Ersten hier im Auditorium und bewege mich zum vorderen Bühnenrand. Die ersten zehn Sesselreihen sind alle reserviert. Auch für mich? Immerhin steht auf der Einladung, dass für mich, respektive für Regina, ein Platz reserviert ist. Ich will mich nicht auf irgendwelche Diskussionen einlassen und steuere den mittleren Bereich ohne Reservierung an. Die Sicht auf die Bühne ist gut, außerdem ist das gar nicht mehr so wichtig, denn die Videowall ist so riesig, dass man auch ganz hinten im Raum bestens sehen und hören kann.
Vereinzelt sitzen ein paar Sektverweigerer verloren in einem Meer von Sesselreihen. Ich zähle soweit ich sehen kann, den Rest schätze ich auf fünfzig Stühle nebeneinander vor der Bühne. Nach hinten sind es etwa dreißig Reihen.
Der kleine Lesetisch, gerademal groß genug für das Manuskript des Autors und dem obligaten Wasserglas, bildet mit  dem spartanischen Sessel eine einsame Symbiose.
Nur gedämpftes Gemurmel der Aperativschlürfer dringt in den Saal. Ich sitze bequem, fußfrei, im mittleren Besucherblock. Wer früher kommt, hat die Auswahl, wenigstens für heute stimmt das. Der Programmfolder dient meinen Händen als Beschäftigung für die rauchfreie Zeit. Es herrscht im gesamten Gebäude Rauchverbot. Es mehren sich die Argumente, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, denke ich. Meine Alkoholsucht habe ich erfolgreich bekämpft, mit dem Nikotin bin ich noch nicht so weit. Vermutlich weil das Rauchen keine sozialen Probleme bereitet. Oder doch? Mittlerweile werden Raucher immer öfter ausgegrenzt, vor die Tür verbannt, abgesondert.

Von der Video-Wall schaut das Bild von Daniel Glattauer direkt in die Sesselreihen. Ich und wahrscheinlich jeder hier im Raum, muss den Eindruck gewinnen, dass er ihm oder ihr direkt in die Augen schaut. Gut gemacht. Neben dem Bild des Schriftstellers stehen die Slogans: Bestsellerautor, vier oder noch mehr Millionen verkaufte Bücher – Trotz Superlative nicht abgehoben – Mensch wie du und ich – Geerdet.
Ich ertappe mich beim Fantasieren. Was wäre wenn? Wenn ich von da oben herunterlächeln würde, mein Buch vorgestellt würde, ich vom Moderator begrüßt und vom Publikum mit Applaus empfangen würde. Wie mich die Menschen bedrängen würden, ihnen zu erzählen, wie ich das alles geschafft habe.
Wie wäre es, wenn mein Wort mehr Gewicht kriegte, ich mir gescheite Sätze einfallen lassen müsste, um meinen Erfolg zu rechtfertigen. Ich glaube, Erfolg kann betrunken machen – glücklich betrunken oder poetisch – Trunken vor Glück. Das wäre der Rausch, den ich mir noch zugestehen würde.
Ja, ich würde was tun. Mein Anliegen sind die Leute vom Rand. Es gibt zu wenig Stimmen die gehört werden. Das zu ändern wäre eine Aufgabe.
Ich habe nicht bemerkt wie sich der Saal füllte, das Licht gedämmt wurde und der Moderator mit dem Veranstalter das Podium betreten hat. Applaus lässt die Luft vibrieren, das bringt mich zurück in die Wirklichkeit. Daniel Glattauer wird vom Direktor des Hauses angesagt und betritt die Bühne. Applaus! Kein Gejohle und Gepfeiffe, nur respektvoller Applaus.
Glattauer begrüßt fast ein bisschen verlegen das Publikum, stellt seine Geschichte vor und erklärt den Leuten, wie es dazu kam. Des Schriftstellers zweite Kunst ist das Interpretieren seines Werkes, den Wörterteppich aufzurollen und den Zuhörer mitzunehmen in seine Welt. Hier und heute ist das fraglos gelungen.
Ich stelle mich nicht in die endlose Schlange, um das Buch vom Autor signieren zu lassen. Ich gehe still und leise aus dem Auditorium. Ich will nach Hause an meinen Schreibtisch. Ich muss die Reise zu meinen Traum beginnen.

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