Sonntag, 28. Dezember 2014

Sonntagstext - 28.12.2014



Julies Aussage

von Dagmar Weck


Jef betrachtet von seinem Küchenfenster aus den tiefer gelegenen engen Innenhof seines Wohnhauses mit dem Maße von Scheu, die er seinem eigenen Dasein auferlegt hat.
Nur den Mietern seines Wohnhauses ist es erlaubt,  diesen Hof zu betreten.
Nie geht Jef in diesen Hof , wenn andere Mitbewohner sich dort aufhalten , so bleibt Jef auch verborgen, was seine Nachbarn mitzuteilen haben.
Er kennt ihre Gesichter, nicht jedoch ihre Worte.

Allein mit Graham erlaubt Jef sich spät am Abend den Besuch dieses Hofquadrates, dessen Zustand ihn in diesem Augenblick mit Entsetzen erfüllt.

Beschädigt und nicht mehr abschließbar hängt das große Hoftor halb aus seiner Befestigung gerissen, sinnlos , eher armselig, erscheint Jef dessen Existenz. Er muss es Graham zeigen, der gleich bei ihm sein wird .

Eine fremde Frau steht im Hof und sieht zu ihm herauf, eine dunkelrote Baskenmütze kleidet sie vortrefflich.

Jef zieht sich zurück in sein winziges Wohnzimmer, hier fühlt er eine begehbare Sicherheit .
Graham, sein einziger Besucher, darf Jefs von menschlichen Bindungen losgelöstes Leben zweimal in der Woche durchbrechen.
„Jemand“, spricht  Jef zu dem von ihm heiß geliebten Bild einer gedehnten  Sandwüste, „ist schuldig geworden an der gewaltsamen Öffnung meines Tores.“ Stets blieb es bisher geschlossen, keinen einzigen Jef unbekannten Passanten von der davor liegenden Straße ließ es bisher in seinen Hof hinein.

Lange läutet jemand die Schelle an Jefs Wohnungstür , eine dunkel schleichende Ahnung  klammert sich fest an Jef, der auf seine Uhr sieht.
Heute gerät etwas aus den Fugen, eine demütige winzige Hoffnung, es möge so sein, berührt Jefs Herz.

Graham läutet immer zweimal kurz, Graham, sein Freund, der so wunderbar mit ihm sein unbewegtes Leben zu teilen vermag.
Jef öffnet seine Wohnungstür: „Heute früher als sonst, Graham?“
„Tag, Jef“, ein wortkarger Graham umarmt lange, sehr lange seinen Freund Jef, „deine Haustür unten stand offen.“

In Jefs engem Wohnzimmer stellt Graham seine Tasche auf den Tisch,  ein warmgelbes Licht der Deckenlampe beleuchtet sie.
„Jef, meine Tasche habe ich neu gekauft, ein kleines Reisegepäck passt hinein.“

„Du verreist doch nie , Graham“, Jef schenkt mit zittrigen Händen zwei bereit stehende Weingläser sehr voll mit herrlich kaltem Rosé-Wein, „auf deine neue Tasche, mein Freund, eine Fremde betrat heute meinen Hof, sie hat ein Verbot übertreten, Graham!“

„Julie heißt sie, Jef.“

Jef schweigt , unmittelbar danach bricht er es: „Eine Fremde, die dir nicht fremd ist, mein Lieber?“

„Wir müssen heute früher zu unserem Essen gehen, mein Jef.“
„Warum?“ Jef spricht langsam, beinahe begreift er, was er sieht. 
Reichlich bepackt erscheint die Grahamtasche.
„Ich habe heute noch etwas vor, mein Guter.“
„Du hast doch sonst nie etwas vor, mein einziger Freund, was könnte ich ohne dich nur tun?“
„Jef, die Zeit nicht mehr anhalten, das ist es, vielleicht gestattest du dir zuzuhören, was Menschen dir sagen.“

„Lass uns aufbrechen, Jef.“
 Es läutet an Jefs Haustür.

Die Freunde verlassen die Wohnung, nachdem Jef seine dunkelrote Baskenmütze sorgfältig auf seinem Kopf zurecht gerückt hat.

Auf der Straße vor Jefs Wohnhaus steht Julie, die sich mit ihrem demütigen, wohligen Lächeln einfügt in die eingeübten Schritte ihrer zwei  Trauernden, je und je.

Im Lokal „ zum silbernen zeppelin“ speisen sie und genießen den Wein. „Jef, ich fahre heute fort.“
„Bleib, Graham“.
„Nein, Jef.“
Julie nimmt zart Jefs Hand, der sie ihr überlässt und weint.
Wissend schaut der Wirt zu seinen Stammgästen herüber.
„Ich besuche einen anderen Freund, Jef“.
„Bin ich schuldig geworden, Gra?“
„Nein, ich verlasse nur unser abgeschiedenes Leben,  wir sind ein wenig hochmütig, mein Guter.“
Hans, der Wirt, gestattet sich Tränen, nachdem seine drei  Gäste, die ihm vertraut sind, ihr Mahl beendet haben.
Vor dem Lokal nimmt Gra seinen Abschied von Jef in einer kurzen Umarmung.
„Wann wirst du zurück sein, Gra?“ Unbeantwortet bleibt diese Frage, Graham geht.

Julie geleitet Jef nach Hause.
„Ein wenig verloren bin ich, Jef, auch ich“, Julie löst sich von ihrem Schweigen, „lass uns zusammen  bleiben für eine Nacht.“
Sie betreten Jefs Wohnung, uneinsam.

Jefs kalter Rosé- Wein erfüllt beider Gläser großzügig.

Später, in ihrem Liebesakt, gehen sie nicht verloren, sanfthochmütig  fühlen sie sich ein, einander achtend für diesen endenden Zeitraum.

Sehr spät in der Nacht glockt ein Mensch an Jefs Haustür, zweimal kurz.


Freitag, 26. Dezember 2014

Adventskalender 2014 - Eine Zugabe (1)

Und da's so schön war, hier eine Zugabe:



Die Krüge



von Paul Celan (1920 - 1970)


 
An den langen Tischen der Zeit
zechen die Krüge Gottes.
Sie trinken die Augen der Sehenden leer und die Augen der Blinden,
die Herzen der waltenden Schatten,
die hohle Wange des Abends.
Sie sind die gewaltigsten Zecher:
sie führen das Leere zum Mund wie das Volle
und schäumen nicht über wie du oder ich.









 

Mittwoch, 24. Dezember 2014

Adventskalender 2014 - "Heiligabend"





Allen Freunden und Lesern des Blogs wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest!

Reinhard Mermi
(Blog-Redaktion)

 

EIN CHRISTKIND ODER DAS WECHSELBAD DER GEFÜHLE

Wolfgang Mayer König


Komm nur herein! Aber das Kind schläft. Da kannst du einmal sehen, wie sich das Aufwachen bei ihm abspielt. Tatsächlich, der Kleine klappt die Lider auf und seine großen, die Umwelt immer neu entdeckenden Augen kommen zum Vorschein. Immer intensiver leuchten sie. Aus dem anfänglich hilflosen, fast ängstlich fragenden Schauen, wird – wie das Einbrechen der Sonne in die beruhigte Welt – ein Lächeln und nach und nach – ein alles einnehmendes Lachen. Das zierlich vorspringende Stupsnäschen und die unmerklich geöffneten Lippen eines zart geformten Mundes ergeben in einem solch rundlichen Babygesicht ein Unterpfand für erwachende Heiterkeit, welche mit so viel Vertrauen ausgestattet ist, wie es nur von einem Kind ausgehen kann. Seine Augen wenden sich einmal zur Mutter, dann zum Vater, schon aus dieser Schaukelbewegung des Blickes offensichtlich Spaß beziehend. Während er wie beiläufig Gewohnheit und Überraschung nebeneinander unterbringt, verbleibt für den Kleinen noch Zeit, lallend seine eigenen Beine und Füße zu begrüßen, an den Socken zu zupfen, um erst dann die kleine Faust zum zahnenden Mund zu führen. „Es ist immer dasselbe Ritual“, bemerkt die Mutter liebevoll, „er begrüßt seine Hände und Füße, wenn er aufwacht. Und er tut so, als ob er mit ihnen reden würde.“
Jedes Mal wenn sich der Vater, ausgestattet mit seinem Besuchsrecht, der Wohnung des Kindes nähert, empfindet er voll Freude diese Aufregung, die nicht zuletzt aus der neugierigen Erwartung zu erklären sein mag, wie sich wohl das Kind inzwischen entwickelt habe und wie der Besuch von der Mutter aufgenommen werde, die für ihn seit jeher eine Einheit mit dem Kind darstellt. Alles, was mehr ist als neutral, denkt er bei sich, ist schon ein Fortschritt. Wenigstens eine Milderung entbehrter Gemeinsamkeit. Er empfindet tiefe Dankbarkeit für all das, was die Mutter auf sich genommen hat. Und es war sehr viel, auf das sie verzichtete, als sie bereit war, einem Kind, diesem Kind, das Leben zu schenken und sich ihm zu widmen. Wie sehr hatte er sich gewünscht, auch die Mühen, die mit diesem täglichen Glück verbunden sind, gemeinsam mit ihr zu tragen, mit ihr zu teilen. Sie lässt es nicht zu. Es ist ihm bewusst, welche Rolle ihm zugemessen wird, er sieht klar, was ihm verbleibt. Auf dieses Kind bezogen sein zu dürfen, empfindet er als  besondere Würde. Wie freut er sich über seine Verantwortung - immer - aber natürlich auch jetzt, wo er knapp davor steht, das Kind wieder sehen und wahrscheinlich in die Arme nehmen zu dürfen. Ja, es ist ihm geradezu feierlich zumute, vielleicht weil er nur allzu gut weiß, wie sehr diese Zeit etwas besonders Kostbares für ihn ist.
Nicht nur die Zeit, die bei jedem  heranwachsenden Kleinkind in Windeseile abläuft und die man gar nicht besser nützen könnte, als sie gemeinsam zu erleben, was ihm jedoch als nicht erziehungsberechtigtem Vater verwehrt ist. Also von der Zeit zu schweigen, die man nützen könnte, um sich unbegrenzt aufeinander  einzustellen. Sondern auch die bemessene Zeit, die verbleibt, wenn sie auch nur wenige Stunden währt und unerbittlich mit sich bringt, dass jedesmal wieder, wenn sich Vater und Sohn spürbar aneinander gewöhnt haben, der Vater zu gehen hat und das Kind zurückbleibt. Jedesmal, wenn die Augen und Arme beider Zeichen geben, einander nahe sein zu wollen, ob auf dem Arm ruhend oder Hand in Hand im Spiel die kleine Welt entdeckend, ist die Zeit abgelaufen und wird der Abgang des Vaters von großen fragenden Augen des Kindes begleitet. 
Oft erstreckt sich der Besuch auf die Dauer einer Ausfahrt mit dem Kinderwagen. Eine Windel wird mit Klammern vor das Dach des Kinderwagens geheftet, um die Augen des Kindes vor der Sonne zu schützen. An einer anderen Klammer hängt ein grünes Kettchen mit einer Plastikblume.
Wenn das Kind im Zustand der Umklammerung dieses Kettchens einschläft, hält seine kleine Hand den ganzen Schlaf hindurch das Kettchen fest umschlossen und macht alle Erschütterungen mit, welche die Unebenheit der Straße verursacht. Immer in der selben verkehrsberuhigten, sonnigen Straße auf und ab
Vorerst sitzt der Kleine, die Fahrt interessiert verfolgend, in seinem Gefährt, um vom intensiven Anschauen des Vaters, der ihm zuredend vorschlägt, ein bisschen zu schlafen, mit immer mehr geschlossenen Lidern in den Schlaf überzuwechseln. Keine Erschütterung, kein Hundegebell kann ihn diesem Schlaf entreißen, am ehesten noch der Stillstand des Kinderwagens. Das darf nicht sein, es muss immer alles in Bewegung bleiben.
Irgendwann im Zuge dieses außergewöhnlich dreisamen Zusammenseins setzt ein leises Quengeln ein und es gelingt  meist mühelos, durch leichtes Schaukeln des Kinderwagens noch während der Fahrt zu erreichen, dass der Schlaf des Kindes fortgesetzt wird. Dann biegt die kleine Einheit, die man, wenn man es nicht besser wüsste,  natürlich als Familie wahrnehmen würde, um die Gassenecke, in Richtung des Wohnhauses, wo der Vater mit dem Kinderwagen und dem noch immer schlafenden Kind, vor der Haustüre anhält und beim Kinderwagen verharrt, als ob er alle Zeit dieser Welt habe und dieser Besuch eigentlich nicht zu Ende gehe. Wie weh tut es ihm, wenn zu Beginn des Besuchs die Mutter zum Kind gewandt bemerkt: „Schau, du hast Besuch!“ Kann ein Vater Besuch sein? So steht er neben dem Kinderwagen, in dem das Kind schläft, er küsst die Hand der Mutter; „Ich glaube, du willst, dass ich jetzt gehe.“ Schon bei der Haustüre kehrt der Vater um: „Lass es mich nocheinmal ansehen!“ Er beugt sich über den Kinderwagen und sieht auch im Dunkel des Hausflurs alles. Das zur Seite gewandte Köpfchen, die zarten Augenwimpern, und hört den leisen Atemzug des Kindes. „Jetzt kann ich wirklich gehen.“ Und während der Vater, nunmehr alleine, wieder in die Gasse einbiegt, wo er auch an Tagen, wo es ihm nicht gestattet war, das Kind zu besuchen, sehnsüchtig und verloren das Haus umkreiste, bricht auch schon dieser unermessliche Schmerz der Trennung, des Vermissens, der immer wieder unterbrochenen Vater-Kind-Beziehung über ihn herein. Und es ist jedes Mal so. Kaum hat man sich aneinander gewöhnt, heißt es auseinander gehen. Kann das dem Kindeswohl dienen, die Beziehungsbande zwischen Vater und Kind so kurz bemessen zu knüpfen, um sie hernach immer wieder unvermittelt auseinander zu reißen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen nimmt er das Futteral aus seiner linken Brusttasche, in welchem er die Fotos seines Kindes aufbewahrt hält. Die zu oberst liegenden sind durch die Klarsichtfolie zu sehen. Er klappt das Etui etwas auf und stellt es in Sichtweite zu seinem Bett auf. Das linke Bild zeigt den Ausdruck dieser so beschützenswerten Hilflosigkeit, das rechte jenes verschwenderisch souveräne Lächeln seines Sohnes. Er hat seit
langem kein Bedürfnis mehr, den Fernseher einzuschalten. Er geht früh zu Bett und stellt sich täglich geradezu darauf ein, in Ruhe den Tag im Anschauen des Kindes ausklingen zu lassen. Wenigstens das, wenn er schon nicht bei ihm sein kann. Und jeden Tag dieselbe Frage, die er sich stellt. Nicht etwa diejenige, warum er nicht beim Kind und das Kind nicht bei ihm sein kann, auch nicht diejenige, warum sein heiß ersehnter Wunsch nach einer intakten Familie nicht in Erfüllung gegangen ist. Sondern nur die eine, die er sich jedes Mal schon im gleichen Atemzug der Fragestellung auch schon selbst beantwortet: Nein, ich kann  nichts mehr verlangen, weil mir ohnehin schon das Größte geschenkt wurde, was einem Menschen gegeben werden kann: Ein gesundes Kind.

Dienstag, 23. Dezember 2014

Adventskalender 2014 - 23. Advent

Der Grüne Kilian

von Reinhard Lackinger


"Als ich Christtagsfreude holen ging" lautet der Titel meiner Lieblings-Weihnachtsgeschichte. Sie ist von Peter Rosegger und stammt aus dessen Waldheimat, unweit meines Geburtsortes Kapfenberg.

Es geht dabei um den Bericht des zwölfjährigen Waldbauernbuben, den der Vater in dunkler und eisiger Herrgottsfrühe ins Tal und in das Dorf Langenwang schickt, um Schuldgelder einzutreiben und damit Lebensmittel einzukaufen. Ingredienzien für die Weihnachtsschleckereien. Auf dem Rückweg trifft der kleine Peterl den Grünen Kilian. Einen Asozialen, wie man heute sagen würde. Dieser bietet dem Buben an, ihm beim Tragen der Waren zu helfen. Beide stapfen eine Weile nebeneinander durch den Schnee. Als die Schritte des grünen Kilian immer größer und schneller werden und der Waldbauernbub nicht mehr mitkommt und zurückbleibt, schreit Peterl angstvoll auf und dem Grünen Kilian nach!. Ein Kutscher, den sie in ihrer Hast einholen hilft dem Peterl schließlich, die Lebensmittel zurückzufordern. So kehrt der Bub mit den weihnachtlichen Siebensachen in seine traute Waldheimat zurück.

Ein Auge auf jene Fischbacher Alpen mit Langenwang, Krieglach und Alpl gerichtet, während das andere auf meine Wahlheimat Salvador blickt, sehe ich nicht den Bauernbuben, sondern den grünen Kilian als Hauptperson der Erzählung.
Was wohl geht in Hirn und Herz derjenigen vor, die sich ausgegrenzt und abseits sozialer Gewissheit fühlen? Was bringt den grünen Kilian dazu, mit den Lebensmitteln im Korb davonzueilen? Wie viele Kinder hat er in seiner Hütte, und wie wenig, um deren Hunger zu stillen? Wie gerecht ist unsere Gesellschaft?
Wie gehen einem derart pamphletarische Sprüche auf die Nerven?
Soll er doch arbeiten der Grüne Kilian und sein eigenes Geld verdienen!

Im Traume stoße ich auf einen Urururenkel des grünen Kilians. Der ist ein guter Skifahrer, hat aber noch nie ein Rennen gewonnen. Ein Verlierer also! Genauso wie sein Urururgroßvater. Er erzählt mir von seinen Fassdauben, mit denen er über Stock und Stein von seiner Fischbacher Hütte ins Tal jagt. Er spricht von mehr oder weniger redlich organisierten Holzskiern mit Riemenbindung, selbst aufgeschraubten Stahlkanten und gekochtem Wachs.

- Früher brauchte ein Skirennfahrer ein Drittel Mut, ein Drittel Talent und ein Drittel Kraft -, sagte er. - Bei den neumodernen Abfahrtspisten, die wie Autobahnen aussehen, kann einer auf Talent und teilweise auch auf Mut verzichten und muss sich bloß auf die Kraft der Beine konzentrieren. Heute entscheidem die Muskeln und die Ausstattung, ob ein Skirennfahrer Erfolg hat oder nicht. So ist es überall im Leben -, sagte er noch, dann rennt er davon, hinterlässt im Schnee die Abdrücke der Sohlen seiner Goiserer.

Ich werde ab heute an der gleißend hellen Weihnachtsdekoration und am Einkaufsrummel vorbeischauen. Mein Blick wird die Verlierer unserer Gesellschaft suchen. Diejenigen, die um ihre Existenz kämpfend, gezwungen sind zu improvisieren, um einen billigen Euphemismus zu strapazieren.
Improvisiert haben auch Maria und Josef, als Christi Geburt nahte. Jahrtausende vergehen, aber die soziale Gerechtigkeit bleibt unverändert. Irgendetwas stimmt bei diesem Vergleich nicht. Was wohl?

Heute werde ich meiner Weihnachtskrippe neue Figuren beifügen. Die des hageren Grünen Kilian, dessen verhärmten Weibes mit rotziger Kinderschar.

Montag, 22. Dezember 2014

Adventskalender 2014 - 22. Advent



Die Frage    

von Dagmar Weck                                       



Ein Samstag, ein Nachmittag breitet sich aus in einem Sommer in Bochum.

"Grüß Dich, Maja," sage ich, umarme Maja, tue es mit unberührbarer Distanz.
"Tag, schön, Dich wieder zu treffen," höre ich die Begrüßung von Maja.
Nebeneinander gehen wir vom Bochumer Bahnhof aus ins "Café Afrika".

"Schön, dass wir uns so früh treffen heute, ich habe ein Würstchen
gegessen heute Mittag", berichtet Maja, "und dazu hatte ich einen
Salat von gestern, den habe ich mir selbst gemacht, Hannah."

"Oh, im Café ist es voll, laß uns draußen sitzen, Maja."
Wir sind angekommen.

"Der Salat war echt gut, einkaufen mußte ich heute unbedingt, von 13.32Uhr
bis 16.07Uhr," Maja setzt sich.
"Die Leute hier draußen sind fast alle in unserem Alter, Maja, im Mittelalter."
Maja guckt sich die Umgebung an, nicht die Cafémenschen.

"Ich will in den Herbstferien nach Südafrika fliegen, habe ich Dir das schon ge-
sagt, Hannah?"
"Sieh, Maja, die Frauen, die hier draußen sitzen, sind alle gut gekleidet, hmm?"
auf Südafrika reagiere ich absichtlich nicht.
"Guck mal, ich habe mir diesen Blazer neu gekauft", Maja zupft an ihm , "habe ihn
mir schicken lassen, war teuer."
"Schön, wirklich schön", reagiere ich kurz auf ihren Konsum.
Wir bestellen bei der freundlichen Bedienung etwas, dieses Café hat Niveau.
Maja, so hoffe ich, stellt mir nicht die Frage, vor der ich Angst habe.

Blazer und Südafrika überschreiten Grenzen, auch meine, das ist es.
"Bezahlt habe ich den Blazer noch nicht, erst mal habe ich Zahlpause, so was
macht die Versandfirma, das finde ich prima, das mit dem späteren Bezahlen
mache ich öfter, den Salat esse ich morgen noch, dazu ein Würstchen,
also Südafrika, habe ich Dir das schon erzählt?“ Maja lacht leise.



In meiner Magengegend nehme ich eine Nervosität war, einen Ärger, aus dem sich
ein Gefühl von Enttäuschung löst.
"Ja, hast Du, Bodo-Verkäufer sind unterwegs, bei dem schönen Wetter lohnt es
sich sicher für sie, meinst Du das auch, Maja?" Ich weise mit dem Kopf auf einen
Bodo-Verkäufer hin.

Maja sieht in die Richtung des Bodo-Verkäufers, den ich meine.
 "Südafrika, ich wollte immer schon mal dorthin", Maja trinkt von ihrem Milchcafé,
"die Reise, die ich mir ausgesucht habe, kostet so einiges," Maja stellt die
große Obertasse weit weg von der zugehörigen Untertasse, "im nächsten Jahr
spare ich mal, habe ich schon oft versucht, Hannah, es geht nicht."

"Heute will ich mal früher zu Hause sein," ich fasse an Majas Blazerarm, "früher
als sonst, wenn wir uns treffen."
"Wie meinst Du das?" fragt Maja, "Du sitzt doch hier gut."
Maja möge mir die erwartete Frage nicht stellen, meine Antwort erfordert ein Ja oder ein Nein.

"In den Herbstferien bleibe ich in Bochum", erkläre ich meine NichtReisePläne,
sehe auf den Tisch und trinke einen Sekt, den ich mir bestellt habe.

"Eigentlich kann ich mir den Urlaub nicht leisten, die große Reise", Maja nähert
sich ihrer Wirklichkeit, "ich muß sparen, konsequent."

"Wir haben Glück, Maja, wir haben ein gutes Einkommen und eine Wohnung, wir
müssen keine Bodos verkaufen."
Der Bodo-Verkäufer geht langsam fort von uns.

"Laß uns ins Bermuda-Dreieck gehen", so plane ich den weiteren Abend.
Ich werde Maja zum Essen einladen, dann möchte ich sie nicht mehr wieder
treffen.
"Vierzehn Tage Südafrika, das wird schön, ich plane Taschengeld ein, so 200
Euro brauche ich für zwei Wochen, sicher so viel, Hannah, das reicht aber,
Halbpension ist in der Reise schon drin."

Sie wird mir die Frage stellen, nein werde ich sagen, meine Einladung zum Essen
soll Maja besänftigen.

"Heute mußte ich noch einkaufen, von 13.42 Uhr bis 15.47 Uhr war ich im
Geschäft, morgen esse ich noch ein Würstchen, Salat habe ich noch",
Maja sieht sich die nähere Umgebung unseres Tischchens an, mich
sieht sie nicht.


Wir stehen auf, Kaffee und Sekt habe ich bezahlt, Maja will es zuerst nicht, dann
will sie es doch. Maja hat ihre Zeitrechnung nicht mehr im Griff.


Wir gehen.
"Du kommst mit 200 Euro Taschengeld nicht aus, die reichen nicht für zwei
Wochen Südafrika", mische ich mich ein.
"Ich fahre so gern weg, zweimal im Jahr muß ich einfach verreisen, mindestens,
zu Hause halte ich es nicht aus, Südafrika, ein Traum von einer Reise", Maja
redet heute sehr viel.


Unser letztes Treffen findet heute statt, Erleichterung fühle ich, Maja und ich
können einander nicht nahekommen.
"Hier ist was los, viele Leute sind heute unterwegs im Bermuda-Dreieck, Maja."

Unser letztes Ziel in unserer Beziehung ist also erreicht, die Kneipen, von mir geliebte Orte.
"Hannah, Dich wollte ich mal was fragen," Maja geht langsamer.

Unsichtbar fühle ich das Messer, das in meinen Körper schneidet.
Nein, so wird meine Antwort lauten, jetzt kann ich nein sagen auf so eine Frage,
vor einiger Zeit noch hätte ich es nicht gekonnt.

"Ich habe nur 320 Euro im Monat zum Leben", Maja hat jetzt eine blasse Stimmfarbe.
"Wie?", sage ich etwas zu laut.
"Zum Leben, für Lebensmittel, Hannah", ein wenig zu viel Entrüstung liegt gerade
in  Majas Gesicht.
"Eigentlich kann ich mir die Reise nicht leisten", Maja lacht manieristisch in den
Bochumer Sommer.

"Maja, wie viele dieser Leute hier mögen einsam sein? Manchmal bin ich auch einsam."
Ich schäme mich meiner Einsamkeit, bin aber etwas befreit, weil ich das nun zu-
geben kann, dieses EinsamGefühl.

Majas Frage wird eine Bitte sein.
"Bei einem anderen Versandhaus habe ich auch noch Schulden, fällt mir gerade
ein", Maja sieht mich lange an.


Meine innerseelischen Pläne gebe ich Maja später bekannt.
"Komm, laß uns hier essen gehen", ich gehe voran, ein gemütliches Lokal, eine
Entscheidung treffen wir gleich, die des Essens und die des Weines.

Noch einige Zeit werden wir einen guten Abend haben.
"Die Schuldnerberatung hat lange Wartezeiten, da gehe ich nicht hin, das Rezept
meines Salates gebe ich Dir mal, Hannah, Du mußt ihn unbedingt essen."
"Nein, ich habe keine Lust, mir Salat zu machen", sage ich bestimmt.

"Ja, ich möchte bitte eine Bodo", sage ich dem an unserem Tisch stehenden Bodo-Verkäufer.
Er gibt mir die Bodo, ich bezahle.
"Darf ich Sie zum Essen einladen?" frage ich ihn.
Majas Frage wurde von ihr noch nicht gestellt, sie betrifft nicht den Bodo-Verkäufer.
"Ja, gerne, danke", antwortet mir der Bodo-Mann.
"Bitte, nehmen Sie Platz", ich sehe ihn an mit Entgegenkommen.
"Danke", sagt er höflich und setzt sich erst jetzt.
Maja schaut mich an, sehr überrascht sehe ich sie.

"Wie geht es Ihnen, ich bin Hannah, das ist Maja", ich versuche, ihm ein wenig
nahezukommen, "schauen Sie in die Weinkarte, wenn Sie Wein mögen."
"Ich heiße Sören", stellt sich mein Gast vor, "geht mir ganz gut."

"Läuft der Verkauf heute gut?" frage ich meinen Bodo-Menschen mit seinem
Schicksal, bin unsicher, ob ihn diese Frage stört oder gar verletzt.
"Ja, läuft alles ganz gut", sagt Sören.
Wir schweigen miteinander, drei unsagbare Menschen, Sören erzählt von sich
aus nichts weiter.
Ihm möchte ich etwas näherkommen, aus seinem Leben möchte ich etwas
erfahren, er berührt mich, insbesondere möchte ich wissen, was ihn aus
der Bahn geworfen hat
Die einzige Nähe, die ich heute Abend bekommen könnte, könnte von der
Begegnung mir diesem Mann ausgehen.

"Heute sind viele Leute unterwegs hier im Bermuda-Dreieck", sage ich.

Inzwischen haben wir unser Essen bekommen, den Wein , der die richtige
Temperatur hat, exzellent, "zum Wohle", sagen wir drei Menschen an
unserem gemeinsamen Tisch.

Vorübergehend ist diese Tisch-Zeit, es tut mir weh.
"Es ist heute sehr voll, lange verkaufe ich nicht mehr", sagt Sören, den ich
auf Mitte Dreißig schätze, nach seinem Alter wage ich nicht zu fragen.
Sören bleibt ziemlich ernst am Tisch.

Maja schaut mich an, ich überlege, was ich sagen könnte, damit Sören mehr
von sich erzählt.
Wir bestellen noch mehr Wein.
"Der ist gut, der Wein", sage ich.
"Hmm", sagt Sören, Maja sagt gerade nichts.
"War bei mir im Leben vieles auch nicht einfach", sage ich, bin unsicher,
ob ich das hätte sagen dürfen.

"Ist oft so", Sören hat sein Essen beendet, "ich muß mal gehen, vielen Dank."
Sören ist sehr höflich, er zeigt eine gewisse Einfühlsamkeit, die ich mir von Maja wünsche.
"Alles Gute, Sören, war schön, Dich zu treffen", nehme ich Abschied.
Sören geht mit seinen restlichen Zeitungen fort, sagt noch: "Alles Gute!"

Er kann davon ausgehen, dass es Maja und mir gut geht, die Tür fällt hinter ihm
zu, mit seinen restlichen Zeitungen ist er gegangen, vielleicht sind sie
sein ganzer Besitz.
"Ich wollte mal erfahren, was in seinem Leben passiert ist", wende ich mich
Maja zu.
"Er hat ja nichts erzählt", antwortet mir Maja, " morgen esse ich vielleicht doch
anderthalb Würstchen."
"Ich hoffe, er hat eine Unterkunft", setze ich unser Gepräch fort.
"Maja, auch mir hätte es passieren können, dass ich mich selbst aus der Bahn
geworfen hätte, ich war drauf und dran, meine Berufsausbildung hinzuwerfen,
es war die Liebe, die ich von jemandem wollte, er hat sie mir nicht gegeben,
ich war die Versagerin, damals, so dachte ich, auf einem Schiff wollte ich damals
vielleicht anheuern, meine Referendarzeit nicht mehr weitermachen."
"Morgen esse ich vielleicht anderthalb Würstchen, Hannah", Maja sieht ihr
Weinglas an, "mit meinem Salat. Sören, den Namen finde ich unmöglich."

Wir bestellen noch Wein, diesmal wähle ich einen Rosé.

Maja hat auch eine Referendarzeit hinter sich und ist eine Beamtin auf Lebenszeit.
"Zum Wohle", sage ich zu ihr, die mir darauf nicht antwortet.

Ein Gefühl, bitte, nur ein einziges für das, was sich ereignet hat, gerade, für
das, was ich Maja gerade erzählt habe, erwarte, verlange ich.
Ein Abschied von Maja steht unmittelbar bevor, der einzige Abschied, den ich von
ihr nehmen werde, es gibt kein nächstes Treffen mehr.
"Ich wollte Dich fragen, Hannah", Maja trinkt genüßlich ihren Wein, " kannst Du mir
Geld leihen, es sind nur eintausend Euro, ich muß einiges bezahlen, was ich jetzt
nicht kann. Ratenzahlungen von zwei Versandhäusern und meine Raten für
meinen letzten Urlaub nach Marokko muß ich auch noch bezahlen."
Sie trinkt von ihrem Wein, zu dem sie eingeladen ist.

"Zusammen sind es neunhundert Euro, die mir gerade fehlen, gib mir bitte ein-
tausendunddreihundert Euro, dann habe ich noch etwas Taschengeld."


Ich trinke von meinem Rosé, Maja sieht zu mir, und doch an mir vorbei hinein ins Lokal.
Erkenntnisse über ein Gefühl der Enttäuschung haben mich erreicht.
"Das Geld brauche ich dringend in den nächsten vier Tagen", Maja ist unberührt
von Gefühlen.
Ich sehe sie an, ein wenig unsicher fühle ich mich, "nein", sage ich deutlich
und ein wenig hart.
"Ich dachte, Du hast doch Geld, Hannah."
"Du verdienst so viel wie ich, Maja, nein, ich gebe Dir kein Geld."
Erklärungen gebe ich nicht ab, schuldig fühle ich mich nur verschwindend wenig.
"Ich zahle es Dir zurück, in Raten, so über drei Jahre hinweg", Maja genießt ihren Wein.

"Du kannst mir das Geld doch gar nicht zurückzahlen bei Deinen vielen Schulden, Maja", mein Rosé ist sehr gut.

"Nein, Maja, ich finanziere Dir nicht ein Leben, das Du Dir nicht leisten kannst, " vollziehe ich diesen Abend.
Ich zahle, so hatte ich es geplant, bin jetzt frei.
Wir umarmen uns nicht mehr beim Abschied, sagen nur: "Wiedersehen", eine
Täuschung.

Drei Menschen entläßt diese Nacht.
Sören, einen abgestürzten, armen Gast der Dunkelheit, Sören, ich hoffe, er hat eine Bleibe.
Sören wird entlassen von dieser Bochumer Nacht mit einer armseligen Zukunft.

Seinerzeit hatte ich doch noch meine Berufsausbildung beendet.

Maja entläßt diese Nacht, eine einsame und planlose Frau, die ihre Bindung zu ihrem
guten Gehalt manisch zu verlieren begonnen hat und die depressiv geworden ist.
Mich, Hannah, entläßt diese  Nacht, eine einsame Frau, die eine solche Nacht wieder
suchen wird.

Sie wird sie finden, möglich ist das in Bochum.