Sonntag, 27. April 2014

Sonntagstext - 27. April 2014



TAVIA

von Reinhard Mermi 

Das große Spiel 


Ich bin der andere, der dir auf deinen Wegen entgegen kommt – aber auch der Dritte. Doch wenn ich jeweils der andere – der Dritte – bin, dann bin ich auch du und du auch ich – und du auch der andere und der Dritte. Dann bin ich selbst auch ich und du selbst bist du. Und so wenig ich und du die Worte und Gedanken, die Gefühle der anderen, des Dritten, verstehen, so wenig verstehe ich mich oder du dich selbst, und jeder lebt für sich in seiner ihm unbegreifbaren erscheinenden Welt – denkt nach über den Sinn und Zweck seines Daseins. Bewundert und liebt sich, weint und lacht über sich selbst, schreit in seiner Verzweiflung die eigene Verlorenheit in die Nacht hinaus. In solchen Momenten konstatiert jeder für sich selbst die Lautlosigkeit der Gefühle in dieser Welt, denn keiner will verstehen, dass er die einzelne Karte in einem Kartenspiel ist; hört keiner die Schreie der anderen. Und obgleich die einzelne Spielkarte nur auf vergänglichem Papier gedruckt wurde, hat sie doch eine ihr zugedachte Gewichtung und Rolle im Spiel. In dem man seinen Gegner täuscht, dessen Gedanken erraten will, Mitgefühl über das Pech des anderen heuchelt, offen seine Schadenfreude zeigt; Allianzen mit den anderen Mitspielern bildet, wenn es zum eigenen Vorteil zu sein scheint. Doch jede Karte im Kartenspiel ist schlussendlich ersetzbar, genauso wie das Kartenspiel selbst. Und trotzdem geht das große Spiel weiter, das Leben heißt, mit gleichen, anderen Karten. Drum setze dich an den Tisch, und spiele Karten mit mir, diese Nacht, damit wir einander vielleicht verstehen. Zumindest für die Dauer eines kurzen Spiels – vielleicht auch bis zum Morgengrauen, wenn wir die Spieltische, die Kartenspiele wieder wechseln.

Doch mische die Karten gut, mein lieber Freund, und ich werde dir zum Zeitvertreib eine kurze Geschichte erzählen ...

Tavia


Ich war angekommen und bereits nach meinen ersten Schritten auf dem Bahnsteig musste sich die Stadt meiner bemächtigt haben. Sie hätte mich abholen können. Ich empfand mich als Insekt, das in die Pflanzenfalle geraten war, in einen Sog, dessen Ursprung ich jetzt erst zu erkennen glaube in dem alten Mann; er steht im Gegenstrom der Passanten, öffnet und schließt den Mund gleich einem Fisch. Er kaut die Luft, die Buntheit der Kioske, die Plakate und Werbesäulen mit ihren Ansagen und Aussagen, den Flugrost der Ferne. Seine Hängebacken blähen sich, er hamstert das Leben darin, indem er es aufsaugt, um anschließend den nicht verwertbaren Rest wieder auszublasen. Müll zu Müll. Seinen Einkaufswagen vor sich herschiebend, seine Armut darin als Ballast, so bahnt er sich, gebückt und mit einem abgetragenen Trenchcoat bekleidet, seinen Weg durch die Passanten. Pflügt er die blumige Brache, über dem sich ein Gewölbe aus Mondmilchscheiben spannt. Schweinwerfer und Lichtspots – Sonnen und Sterne zugleich, das Geräusch des Windes –  ein Grundrauschen – verursacht durch die eilenden Schritte der Passanten, dem murmelnden Bettler, fallenden Gepäckstücken, anhaltenden und abfahrenden Zügen , dem Schlag auf Metall, verhaltenes Rufen, die Frauenstimme aus dem Lautsprecher von Zeit zu Zeit. Blitzlichtgewitter. Kein Regen. Ein herumstehender Mann mit gegeeltem Haar wirft eine zerdrückte RedBull-Dose in den Einkaufswagen des gebückt gehenden Trenchcoat-Trägers und grient. Verärgert bläht der Alte ob der Unverfrorenheit seine Hängebacken ballonförmig auf und hechelt Luft in kurzen Stößen. Unbeabsichtigt gerät er mit einer Nobeldame aneinander, mit Paketen in Goldpapier bepackt. „Haste zwei Euro für mich?“, frägt mich jemand. Sie bahnt sich den Weg durch die entgegenkommenden Menschen in Richtung Ausgang „City“. ...

Sie trägt Pumps, und der Asphalt antwortet mit einem aufreizenden Klappern, wenn ihre Schuhe den Boden berühren. Ich folge unwillkürlich der, so wie ich annehme, jungen Trägerin, die in einem Juweliergeschäft am Ende der Bahnhofshalle verschwindet. Ein schwarzer Lieferwagen hält am Bahnhofseingang. Zwei Männer mit dunklen Brillen steigen aus; `Security-Transport´ steht auf ihren Overalls. 


Der Fluss verschwindet hinter einer sanften Biegung; eine Mischung aus Budapester Donau-Prospekt und Canale-Grande, der Provinzialität eines Flügelbahnhofs. Du bist nicht gekommen. Auf der Kaimauer zeigen weibliche Models die künftige Sommer-Mode. Sollte ich länger an diesem Ort verweilen, oder dem Verlauf des Flusses folgen? Wohin würde er mich führen? Was, wenn ich weiterginge, den noch verbleibenden Rest dieses Tages? Die ganze Nacht – vielleicht noch den kommenden Tag? Würde ich dich am Ende finden? – TAVIA! Ich liebte von Anfang an den Klang deines Namens! “Wir dürfen uns in dieser fremden Stadt nach so vielen Jahren nicht aus den Augen verlieren!“, sagte ich zu dir, ich weiß nicht mehr wann und bei welcher Gelegenheit das war.

Ich bin besorgt und konstatiere im Nachhinein die Lautlosigkeit der Gefühle, draußen wie drinnen, stoße mit beiden Händen die Tür zum Gastraum weit auf und stelle fest, dass ich in diesem Etablissement zu Hause bin, für die kommende Nacht zumindest. Aus zwei schäbigen Ledersesseln erheben sich fremde Männer, sagen, sie seien ferne Verwandte, geben vor, mich seit Stunden schon zu erwarten, erkundigen sich nach meinem Wohlbefinden. Sie nehmen mich in die Mitte, reden mit hastigem Staccato auf mich ein, informieren mich, dass du vor einer knappen Stunde, ohne dein Ziel zu nennen, von hier weggegangen wärst. Unter ihren offenen Blousons tragen sie vergilbte Nylonhemden; aus der Musicbox im Hintergrund ertönt Boogie-Woogie.


Der Wirt hinter der Theke: er trägt ein schmutzig-weißes Feinripp-Unterhemd, seine Arme sind tätowiert. Er öffnet eine Flasche Pils, schiebt sie zu mir rüber; seine Finger sind nikotingelb. Das Fasspils „ist alle“ hatte er mir zuvor verkündet.  Dann lehnt er sich wieder an den Tresen, den Aschenbecher vor sich, und nimmt einen Zug aus seiner offensichtlich niemals ausgehenden Zigarette.

Ich nippe an dem warmen Bier, sehe dich in meiner Vorstellung vor mir: du drehst dich nach mir um, ich schaue in ein mir fremdes, zorniges Gesicht; dann verschluckt dich eine Menschenmenge. Der Geruch nach billigem Aftershave, der Zigarettenqualm, die beklemmende Eindringlichkeit der Blümchenmuster-Tapete rauben mir den Atem.  Ich gehe nach draußen, bin besorgt und konstatiere im nachhinein die Lautlosigkeit der Gefühle draußen wie drinnen.

Schöne Frauen in Sommergewänder gekleidet, stehen auf der Kaimauer, sehen mich an, um sich dann abzuwenden. Steigen in den Fluss der hinter einer sanften Biegung verschwindet. Eine Mischung aus Budapester Donau-Prospekt und Canale-Grande, der Provinzialität eines Flügelbahnhofs. Die schönen Frauen verharren regungslos in knöcheltiefem Wasser. Ihre Blicke gehen in unterschiedliche Richtungen, andere waten unbeachtet in Richtung Flussmitte, bis sie in diffusen Lichtfluten versinken. 


Warum war ich an diesen Ort zurückgekehrt? Sollte ich länger an diesem Ort verweilen, oder dem Verlauf des Flusses folgen? Wohin würde er mich führen? Was, wenn ich weiterginge, den noch verbleibenden Rest dieses Tages? Die ganze Nacht – vielleicht noch den kommenden Tag? Würde ich dich am Ende finden? Ist doch jeder Schritt – vor oder zurück – eine schwere Entscheidung für mich, bereitet mir Schmerzen. Oder sollte ich einfach stehen bleiben. Für wie lange? Wie lange dauert eine Ewigkeit?  Würde es mir in meiner derzeitigen Situation, über die ich mir nicht im klaren war, meiner derzeitigen Verfassung, nützen? Wäre jeder meiner Schritte über diese unsichtbaren Barrieren hinweg, für mich zielführend, ausschlaggebend für mich, da ich den Anfang – meinen Anfang – nicht einmal kannte? – TAVIA! Ich liebte von Anfang an den Klang deines Namens! – Wir dürfen uns in dieser fremden Stadt nach so vielen Jahren nicht aus den Augen verlieren! Sagte ich zu dir, ich weiß nicht mehr wann und bei welcher Gelegenheit das war.

Eine Gruppe von Männern und Frauen wendet sich mir zu. Ich schaue in leere Gesichter, während ich mich für die Lederjacke bedanke. Sie klatschen, während ein Mann mir die Jacke aus der Hand nimmt, sich überzieht. Wasserpfützen bedecken den Platz,  in den Ritzen des Plattenbelags wächst Löwenzahn. Ein schwarzes Loch speit eine Kugel, die Kegel aus. Die Kugel: sie weicht von den sich aufgerichteten Kegeln, folgt der Wasserspur, spult sie auf, überrollt die Blüten des Löwenzahns, bevor diese sich wieder unversehrt aufrichten. Dann gleitet die Kugel zurück in meine ausgestreckte rechte Hand; ich ziele nach den Kegeln.

Ich bin besorgt und konstatiere im nachhinein die Lautlosigkeit der Gefühle draußen wie drinnen, stoße mit beiden Händen die Tür zum Gastraum weit auf. Ich stelle fest, dass ich in diesem Etablissement zu Hause bin, für die kommende Nacht zumindest. Ein Mann betritt hinter mir den Raum. Aus zwei schäbigen Ledersesseln erheben sich fremde Männer, sagen sie seien ferne Verwandte von ihm, geben vor, ihn seit Stunden schon zu erwarten. Mich lassen sie unbehelligt.

Die Männer nehmen ihn in die Mitte und reden mit hastigem Staccato auf ihn ein, informieren ihn, dass seine Freundin oder Frau vor einer knappen Stunde, ohne ihr Ziel zu nennen, von hier weggegangen wäre. Unter ihren offenen Blousons tragen sie vergilbte Nylonhemden, aus der Musicbox im Hintergrund ertönt Boogie-Woogie.


Der Wirt hinter der Theke: er trägt ein schmutzig-weißes Feinripp-Unterhemd, seine Arme sind tätowiert. Er öffnet eine Flasche Pils, schiebt sie dem fremden Mann rüber; seine Finger sind nikotingelb. Das Fasspils „ist alle“ hatte er ihm zuvor verkündet.  Dann lehnt er sich wieder an den Tresen, den Aschenbecher vor sich, und nimmt einen Zug aus seiner offensichtlich niemals ausgehenden Zigarette.

Der Zigarettenqualm, dazu der Geruch nach billigem Aftershave, die beklemmende Eindringlichkeit der Blümchenmuster-Tapete, rauben mir den Atem. Unbehelligt verlasse ich das Lokal über die Hintertür, stehe in einem kahlen Treppenhaus aus Schalbeton: In den Ecken die Reste von Erbrochenem; es stinkt nach Pisse. Ich gehe die nackten Stufen hinauf, bin besorgt, und konstatiere im nachhinein die Lautlosigkeit der Gefühle hier draußen wie drinnen.

Die Treppenraumwände sind mannshoch mit wasserabweisender Öllackfarbe gestrichen, die vergitterten Fenster lassen den Blick auf den Hinterhof zu. Die Fassaden hat wilder Wein überwuchert. Ein alter Mann sitzt auf einem umgekehrten Blecheimer, hantiert mit Schraubenschlüssel und Pinsel an den Felgen seines VW-Käfers. Er kippt Reinigungsflüssigkeit aus einer Blechdose in den Hofablauf. Ich bin in der obersten Etage angelangt; ein kleines Mädchen mit Zöpfen hüpft sichtlich sorglos die Stufen hinab, ganz nah am saugenden Abgrund des Treppenauges entlang, es öffnet den Mund zu einem stummen Lachen. Der Name der Stadt, des Orts, Grund und Anlass meines Aufenthalts erschließen sich mir nicht. Ich bin darüber besorgt und konstatiere im Nachhinein die Lautlosigkeit der Gefühle draußen wie drinnen. Jemand ruft nach dem Kind: TAVIA.

Reinhard Mermi
(Blog-Redaktion)
 

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