Das
Flugticket
von Manfred Kolb
von Manfred Kolb
Jens Ravenhorst hatte sich gerade in einem Sessel
der Hotel-Lounge nieder gelassen und sich in die Tagezeitung vertieft, als er
angesprochen wurde.
„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“
Jens ließ die Zeitung sinken und sah auf. Vor
ihm stand eine junge Dame im grauen Hosenanzug, mit dunklem Haar und ebenso
dunklen Augen und lächelte ihn an.
„Aber ja, natürlich“, antwortete er, „nehmen Sie
ruhig Platz.
Als er sich wieder in seine Lektüre vertiefen
wollte, hörte er sie mit einer angenehm warmen Stimme sagen:
„heute ist Heilig Abend. Viele Menschen haben
die Bedeutung dieses Abends längst vergessen. Für sie ist Weihnachten nur ein
Schenkfest geworden“.
Jens Ravenhorst ließ die Zeitung wieder sinken.
„Was sagten Sie da eben: Weihnachten hat keine Bedeutung mehr? Da irren sie
sich. Meine Frau und ich sind gläubige Christen und wir feiern Weihnachten mit
unseren Kindern im Gedenken an die Geburt des Heilands!“
„Und was machen Sie dann hier im Hotel?
Entschuldigen Sie, dass ich Sie das so direkt frage, denn das geht mich
eigentlich gar nichts an!“ In Ihrem Gesicht spiegelte sich ein kleines
Erschrecken über Ihre Bemerkung wider.
„Sie dürfen das gerne wissen“, antwortete er mit
ruhiger Stimme. „ Ich wollte heute Mittag eigentlich nach München fliegen, um
mit meiner Familie HeiligAbend zu feiern, aber durch eine lange Besprechung mit
meinen Auftraggebern habe ich den Flieger verpasst. Und die Abendmaschine ist restlos
ausgebucht. Es wollen offensichtlich viele Menschen Weihnachten zuhause
verbringen. Nun kann ich erst morgen Früh abfliegen.“
Die junge Dame sah ihn mitfühlend an. „Das tut
mir sehr leid für sie. Sie haben sich sicher auf zuhause gefreut, nicht wahr?
Und nun muss Ihre Familie ohne Sie diesen besonderen Abend verbringen!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „
ich heiße übrigens Lydia Leiras. Und entschuldigen
sie bitte, dass ich Ihnen mit meinen Fragen aufdringlich vorkommen muss!“
„Das tun Sie nicht! „Mein Name ist übrigens Jens
Ravenhorst, ich bin Architekt und habe mit dem hiesigen Großbauprojekt zu tun,
das unter Zeitdruck steht. Deshalb die heutige Besprechung, die länger als
geplant dauerte.“
Die junge Dame schwieg. Jens sah, dass es in ihrem
Kopf arbeitete.
„Da Sie
sich nach dem Grund meines Hierseins an HeiligAbend in einem Hotel fern von der
Familie erkundigt haben, erlauben Sie mir Sie zu fragen, warum Sie an diesem
christlichen Gedenktag allein hier im Hotel sitzen? Haben Sie auch eine Familie
oder einen Menschen, der auf Sie wartet?“
Lydia Leiras antwortete nicht gleich. Dann
räusperte sie sich und erklärte Jens Ravenhorst, dass sie kein Zuhause wie er
hätte und niemand auf sie wartete. Aber es täte ihr unendlich leid, dass er
HeiligAbend ohne seine Familie allein verbringen müsse.
Mit diesen Worten griff sie nach ihrer
Handtasche, die sie neben sich im Sessel platziert hatte, und holte einen
länglichen Umschlag heraus, den sie Jens überreichte.
„Nehmen sie das bitte“, sagte sie in einem
beschwörenden Tonfall, „im Umschlag befindet sich ein Flugticket für die
Abendmaschine nach München. Wenn Sie sich demnächst auf den Weg machen,
erreichen Sie die Maschine noch rechtzeitig!“
Jens Ravenhorst schaute sein weibliches
Gegenüber erstaunt an: „Ihr Flugschein für die Maschine nach München? Das ist
ja sehr nett von Ihnen, aber das kann ich nicht annehmen. Sie haben doch den
Flug für sich gebucht, um heute Abend nach München zu fliegen. Da wartet doch
bestimmt jemand auf Sie. Was anderes kann ich mir gar nicht vorstellen!“
In Lydia Leiras Gesicht zeigte sich das warme
Lächeln, das er während ihrer Unterhaltung schon öfter an ihr bemerkt hatte.
„Nein, auf mich wartet an HeiligAbend weder in München noch sonstwo irgend jemand
auf mich. Machen Sie sich keine Sorgen um mich: ich fliege dann eben morgen
früh.“
Jens Ravenhorst hatte sich nach längerem Zögern
entschlossen, das für ihn unerwartete Geschenk doch anzunehmen, welchen Grund
die junge Dame dafür auch haben mochte.
„Und was bin ich Ihnen für das Flugticket
schuldig?“, fragte er sie.
„Nichts“, antwortete sie. „Betrachten Sie es als
ein Weihnachtsgeschenk von jemand, der den Wunsch hat, dass Sie Weihnachten
nach christlicher Tradition mit Ihrer Familie feiern können!“
Mit vielen Dankesbezeugungen verabschiedet sich
Jens Ravenhorst von Lydia Leiras, nachdem er auch ihr ein besinnliches und erfülltes
Weihnachten gewünscht hatte, wo immer ihr das begegnen würde.
„Ja das tut es bestimmt“, verabschiedete sie
sich von ihm.
Als Jens Ravenhorst im Flughafen am Checkin-Schalter der
Fluglinie die Angestellte um eine Umbuchung des Tickets von Frau Lydia Leiras
auf seinen Namen bat, erlebte er eine
Überraschung. Die Angesprochene, die das Ticket dem Umschlag entnommen hatte, schüttelte
nämlich den Kopf: „Herr Ravenhorst, das Flugticket, das Sie mir überreicht
haben, ist doch auf ihren Namen ausgestellt!“
Als er sie ungläubig anblickte, sagte sie: „da
sehen Sie selbst!“
Und in der Tat, da stand sein Vor- und Zuname. Jens wusste nicht, was er sagen sollte. Wie in
Trance nahm er seine Bordkarte entgegen und strebte dem Warteraum zu. Wie
konnte es sein, dass das Flugticket, das Lydia Leiras ihm geschenkt hatte,
nicht auf ihren, sondern auf seinen Namen ausgestellt war, fragte er sich. War
hier Zauberei im Gange? Oder gehörte Dame zu den Himmlischen Heerscharen, die zu
Weihnachten Gutes tun wollten? Letzteres war aber unwahrscheinlich in
Anbetracht der Begegnung mit Lydia Leiras im Hotel, die nichts überirdisches
oder engelhaftes an sich hatte.
Jens lächelte bei diesem Gedanken und bestieg
den Flieger, der ihn zu seiner Familie bringen würde, die er nach dem
Einchecken über sein Smartphone von seiner überraschenden rechtzeitigen Ankunft
an HeiligAbend verständigt und damit große Freude ausgelöst hatte.
Auch seine Familie, der er später von dem
Geschenk des Flugtickets durch die ihm unbekannte junge Dame namens Lydia Leiras
berichtete, konnte keine Erklärung für das Geschilderte finden.
Als
Jens nach den Weihnachtsfeiertagen an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte und wieder
im selben Hotel Quartier bezog, fragte er den Empfangschef an der Rezeption
nach einer Frau namens Lydia Leiras, die er an HeiligAbend in der Lounge
getroffen hätte. Aber eine Dame dieses Namens hatte dort kein Zimmer gebucht gehabt, erhielt
er als Auskunft. Und in der Lounge war an HeiligAbend auch keine Dame anwesend gewesen,
daran hätte er sich erinnert. Nach seinen Beobachtungen habe er, Herr
Ravenhorst, bis zu seiner Abreise Zeitung lesend allein in der Lounge gesessen.
Trotz intensiven Nachdenkens fand Jens Ravenhorst
keine Erklärung für sein Erlebnis. Dabei hätte er nur die Buchstaben des
Nachnamens „Leiras“ in die richtige Reihenfolge bringen müssen.
Denn rückwärts gelesen wird aus Leiras der Name
des Erzengels Sariel.
ENDE
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